Selbstbestimmungsgesetz Experten diskutieren über Umgang mit Jugendlichen
Heute Morgen tagte die öffentliche Anhörung zum geplanten Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Paul-Löbe Haus in Berlin. Einmal mehr standen sich Befürworter und Kritiker gegenüber. Schwerpunkt dabei blieb die Frage, wie selbstbestimmt Minderjährige über ihr Geschlecht entscheiden können und sollen.
Jugendliche „hoffnungslos überfordert“?
Prof. Dr. Bernd Ahrbeck, Professor für Psychoanalytische Pädagogik an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin erklärte, dass das Gesetzesvorhaben mehrere Schwachpunkte habe. Kinder und Jugendliche seien mit der geplanten Selbstentscheidung „hoffnungslos überfordert“. In allen anderen Lebensbereichen würde es Schutzfunktionen bei Minderjährigen geben, nur hier nicht. Dazu bedürfte es ein „gesichertes inneres Wissen“ bei Jugendlichen, genau dies würde allerdings nicht existieren, wie die wissenschaftlichen Fakten belegen – 80 bis 85 Prozent der Jugendlichen, die zunächst einen Geschlechtswechsel wünschen, würden später zu ihrem ursprünglichen biologischen Geschlecht zurückkehren.
Der einfache Geschlechtswechsel würde künftig dazu führen, dass auch eine Transition inklusive medizinischer Behandlungen schneller erfolgen würde, zudem sei klar, dass Jugendliche mit einem Wunsch eines Geschlechtswechsels oftmals Komorbiditäten aufweisen, beispielsweise Depressionen, Angststörungen oder auch eine verdeckte Homosexualität. Ahrbeck plädierte darauf, die Erfahrungen anderer Länder besser im Blick zu haben, beispielsweise von Schweden, denn das Land vollzieht gerade in puncto Geschlechtswechsel eine 180-Grad-Wende.
Hohes Missbrauchspotenzial?
Trans-Autor und Experte Till Randolf Amelung erklärte, durch die geplante Streichung jedweder Kontrolle durch Dritte würde das Missbrauchspotenzial beim SBGG massiv gestärkt werden. In seiner derzeitigen Form würde das SBGG sich auch stark negativ auf die Akzeptanz von Trans-Menschen insgesamt auswirken.
Prof. Dr. Judith Froese, Lehrstuhl für öffentliches Recht an der Universität Konstanz, äußerte zudem verfassungsrechtliche Bedenken, in vielen Aspekten wie dem Streit um das Hausrecht entstehen Folgeprobleme für Privatpersonen sowie eine große Rechtsunsicherheit. Zudem aus juristischer Sicht werde sowohl die Elternverantwortung wie auch das Kindeswohl untergraben.
Selbstbestimmte Entscheidung von Kindern
Prof. Dr. med. Aglaja Stirn, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Stellvertretende Klinikdirektorin und Chefärztin auf Schloss Tremsbüttel Hamburg, betonte, dass mit dem SBGG die subjektive Wahrnehmung über die objektive Wahrnehmung gestellt werde, das entspreche einem grundlegenden Paradigmenwechsel. Patienten würden dadurch lebenslang zu Patienten werden, zudem würden Minderjährige in einer Lebensphase mit diesen Entscheidungen belastet, in der sie sowieso bereits mit massiven Umbrüchen umgehen müssen.
Dem widersprach Prof. Dr. med. Sibylle M. Winter, Stellvertretende Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Charité – sie hält Kinder und Jugendliche durchaus in der Lage, selbstbewusst über ihre Geschlechtsidentität zu entscheiden. Prof. Dr. Stirn hingegen hielt fest, dass das SBGG für „viele zum Nachteil werden“ würde, vor allem für Frauen.
Zu hohe Hürden für Trans-Menschen?
Aus rechtlicher Sicht betonte Nele Allenberg vom Deutschen Institut für Menschenrechte, dass das Gesetz als Stärkung der Kinderrechte zu begrüßen sei, allerdings solle man sowohl die Altersgrenze von 14 Jahren wie auch die geplante Zustimmung der Eltern beziehungsweise des Familiengerichts überdenken. Ähnlich äußerte sich auch Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans, das Gesetzesvorhaben würde Trans-Menschen noch zu hohe Hürden aufbürden.
Richard Köhler, Expert Advisor bei Transgender Europe, betonte, dass das neue Gesetz durchwegs positiven Nutzen habe – die geschlechtliche Selbstbestimmung helfe Trans-Menschen sehr und stärke die Anti-Diskriminierung. Auch er plädierte wie Hümpfner zu weiteren Korrekturen, beispielsweise der Streichung der Wartezeit von drei Monaten vor einem Personenstandswechsel. Prof. Dr. Anna Katharina Mangold, Professorin für Europarecht an der Europa-Universität Flensburg, betonte, dass das SBGG ein Menschenrecht wäre, sowohl für Minderjährige wie auch für Flüchtlinge oder Asylbewerber. Ferne appellierte sie für ein Bußgeld beim Deadnaming. Auch die Weitergabe der Daten vor einem Geschlechtswechsel an zehn Sicherheitsbehörden sei rechtlich nicht in Ordnung.
Frauenverbände gespalten
Das SBGG sei ein „Gewinn für die ganze Gesellschaft“, erklärte schließlich auch Henrike Ostwald, Referentin für nationale Gleichstellungspolitik des Deutschen Frauenrats, denn auch „Frauenschutzräume seien nicht in Gefahr“. Mitglieder anderer Frauengruppen sowie der Feministischen Frauen-Lesbenaktionsgruppe demonstrierten allerdings bereits vor der heutigen öffentlichen Sitzung gegen das SBGG vor dem Paul-Löbe-Haus. „Auch der in der Anhörung vertretene deutsche Frauenrat repräsentiert nicht die kritischen Stimmen von Frauen. Seine existenzielle finanzielle Abhängigkeit vom Familienministerium ist unübersehbar“, betonte Monne Kühn von der Lesbenaktionsgruppe dabei.