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Streit um Selbstbestimmungsgesetz

Streitfall Selbstbestimmung Befürworter und Gegner sind unzufrieden

ms - 28.03.2023 - 10:00 Uhr

Die Debatte um das geplante neue Selbstbestimmungsgesetz ist erneut entbrannt, nachdem am vergangenen Freitag die Süddeutsche Zeitung erste Informationen zum finalen Gesetzentwurf veröffentlicht hatte. Seitdem gibt es sowohl innerhalb wie außerhalb der LGBTI*-Community Kritik an den jüngsten Plänen, sowohl von Befürwortern wie Gegnern; mehrere Juristen erklärten zudem inzwischen, dass der Gesetzestext in seiner derzeit angedachten Form verfassungswidrig sein könnte.

Details im Fokus

Kurz zu den Kernaspekten: Nach Informationen der SZ soll künftig jeder erwachsene Mensch eine Personenstandsänderung durchführen können, bisherige medizinische Gutachten oder eine Diagnose über eine Geschlechtsdysphorie entfallen. Kinder und Jugendliche können diesen Schritt nur mit Zustimmung der Eltern vollziehen, weigern sich diese, haben Jugendliche ab 14 Jahren die Möglichkeit, einen juristischen Geschlechtswechsel über das Familiengericht zu erzwingen.

In allen Fällen gibt es eine dreimonatige Bedenkfrist, bevor die Änderung am Standesamt überhaupt rechtskräftig wird. Zudem soll es im neuen Gesetzestext einen Passus geben, der noch einmal explizit das Hausrecht herausstellt, sodass nach Aussagen von Justizminister Marco Buschmann (FDP) die finale Entscheidung, ob eine Trans-Person beispielsweise in eine Frauensauna darf oder nicht, beim Betreiber liegt.

Was wiegt mehr – Hausrecht oder Selbstbestimmung?

Genau an diesem Aspekt entbrannte nun die Kritik seitens Trans-Aktivisten sowie auch von Feministinnen. Zum einen würde so die Entscheidung den Betreibern aufgebürdet, inklusive möglicher Klagen und Streitigkeiten, anstatt juristische Klarheit zu schaffen, zum anderen kann es dann nach wie vor geschehen, dass Trans-Frauen beispielsweise von Frauenräumen ausgeschlossen werden. Anhand welcher Kriterien ein solcher möglicher Ausschluss stattfinden könnte, ist ebenso völlig unklar – Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) geht offensichtlich davon aus, dass das Aussehen einer Person allein nicht ausreiche. Es bleibt hier abzuwarten, ob der dann, wie angekündigt noch vor Ostern, veröffentlichte Gesetzestext mehr Klarheit schafft.

Die SZ kommentierte die Entscheidung der beiden beteiligten Ministerien so: „Paus und Buschmann haben sich hier weggeduckt.“ Kritik daran kommt auch von Seiten der SPDqueer wie auch von den Linken, die genau jene Ungenauigkeit im Gesetzestext als fatal einstufen. Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, pocht auf das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und schrieb: „Zutrittsverweigerungen nach Hausrecht dürfen nicht allein auf das Geschlecht abstellen.“ Auch diese Aussage erntete online viel Kritik.

Ist das Gesetz vielleicht verfassungswidrig?

Gegenüber dem Magazin EMMA erklärten jetzt mehrere Juristen, dass das Gesetz in seiner jetzt angedachten Form verfassungswidrig sei, gerade mit Blick auf die Selbstzuordnung des Geschlechts ohne Bezug zur biologischen Grundlage: „Das Gesetz hätte Folgen für alle Rechtsgebiete, bei denen es auf das Geschlecht ankommt (…) Mit der Preisgabe der Biologie als Regelkriterium bleiben von der körperlichen Kategorie des Geschlechts nur noch die Begriffshülsen übrig“, so Boris Schinkels, Professor für Bürgerliches, Internationales und Europäisches Privatrecht an der Universität Greifswald. Diese Folgen reichten von der Wehrpflicht im Kriegsfall über diverse Arbeitsschutzbestimmungen bis hin zu sportlichen Wettkämpfen, dem gesamten Strafvollzug sowie auch dem Familiengericht.

Missbrauchspotenzial durch Selbstbestimmung?

„Hier wird ein derartiges Missbrauchspotenzial präsentiert, da kann man sich nur an den Kopf fassen“, erklärt der Düsseldorfer Rechtsanwalt Udo Vetter und zeigt sich „fassungslos“ gegenüber der EMMA; er ist vom Fach und hat bisher mehrere hundert Sexualstraftäter verteidigt. Diskriminierungsverbote oder die verfassungstechnisch festgeschriebene Gleichstellung von Frauen und Männern werde unterlaufen, meint dann der Arbeitsrechtler Jonas Jacob, der „das geplante Selbstbestimmungsgesetz sowohl aus verfassungsrechtlicher als auch aus unionsrechtlicher Perspektive für rechtswidrig“ hält. „Im Unionsrecht, das dem nationalen Verfassungsrecht vorgeht, herrscht ein binäres Geschlechtsverständnis, das grundsätzlich an die biologischen Voraussetzungen anknüpft.“

Mehrere weitere Juristen bekundeten ebenso den Ansatz, dass das geplante Selbstbestimmungsgesetz in der Realität schwer umsetzbar sei beziehungsweise auch viele juristisch offene Fragen aufwerfen würde. Es bleibt abzuwarten, ob die genaue Formulierung im Gesetzestext mit der offiziellen Veröffentlichung hier mehr Klarheit bringt. Im Moment scheinen die derzeit angedachten Richtlinien weder Befürworter noch Gegner des Selbstbestimmungsgesetzes jenseits parteipolitischer Aussagen zufrieden zu stellen.

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