Direkt zum Inhalt
Rechtsruck in Spanien
Rubrik

Rechtsruck in Spanien Wohin wandert Spanien und die LGBTI*-Community?

ms - 26.06.2023 - 11:00 Uhr

Richtungswechsel in Spanien? Ende Juli entscheidet sich bei den vorgezogenen Parlamentswahlen, wohin das Land politisch und gesellschaftlich gehen wird – es droht dabei eine Regierungsbeteiligung der extremen Rechten. Nach den Ergebnissen der Kommunal- und Regionalwahlen Ende Mai in Spanien und dem verheerenden Stimmenverlust bei den regierenden Linksparteien, hat der sozialdemokratische Ministerpräsident Pedro Sánchez die Parlamentswahlen von Dezember dieses Jahr auf den 23. Juli vorverlegt und das bisherige Parlament aufgelöst.

Warum verloren die Linksparteien Stimmen?

Doch wie konnte ein Teil der Bevölkerung offenbar so plötzlich und überraschend politisch konservativ bis rechts wählen? Gibt es eine Begründung, warum die linken Regierungsparteien so herbe Verluste erlitten haben? Schuld am Wahldebakel sei die Zerstrittenheit der linken Parteien und die Machtspiele in der Regierungskoalition, erklärte der Politikwissenschaftler Pablo Simón gegenüber der Tagesschau. In einigen Regionen des Landes konnten so die Rechtsradikalen, die Partei Vox, ihre Stimmenanzahl binnen von vier Jahren verdoppeln.

Was das konkret für die LGBTI*-Community bedeutet, sieht man derzeit schon in der kleinen spanischen Stadt Naquera nahe Valencia. Die rechtsextreme Vox sitzt mit in der Stadtregierung und hat als erste Maßnahme vor wenigen Tagen beschlossen, Regenbogenfahnen an allen öffentlichen Gebäuden verbieten zu lassen.  

Frauenfeindliche Queer-Politik?

Die spanische ehemalige Staatsrätin Amelia Valcárcel erklärte dabei jetzt gegenüber dem britischen Telegraph, dass die Regierung massiv an Stimmen verloren habe, weil sie sich mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz gegen Frauenrechte positioniert hätte. Wortwörtlich: „Keine Regierung kann mit Frauen gegen sie regieren.“ Seit der finalen Verabschiedung des neuen Gesetzes Ende 2022 haben sich die Fronten im Land offenbar verhärtet – inzwischen gibt es nach Angaben des Telegraphs eine  „heftige, organisierte Gegenwehr“.

Immer mehr Frauenrechtlerinnen hätten so der spanischen Koalitionsregierung inzwischen den Rücken gekehrt. Am Wahltag hatten viele feministische Organisationen dann unter dem Slogan „Feminismus wählt keine Verräter“ zu einem Boykott gegen die, ihrer Meinung nach frauenfeindliche Politik der spanischen Regierung aufgerufen.

Proteste im Vorfeld nicht ernstgenommen

Bereits im Vorfeld des Gesetzes war es in Spanien zu massiven Protesten gekommen, nicht nur von feministischer Seite, sondern auch von hunderten Ärzten sowie der spanischen Gesellschaft für Psychiatrie oder der Madrider Ärztekammer. Spaniens Gleichstellungsministerin Irene Montero von der Linkspartei hatte das Gesetz im Eilverfahren trotzdem durch alle staatlichen Instanzen gebracht – das scheint sich jetzt mit der letzten Wahl gerächt zu haben.

Mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz ist ein Namens- und Geschlechtswechsel bereits als Kind möglich: Vor dem 12. Lebensjahr dürfen Kinder künftig bereits ihren Namen ihrem gefühlten Geschlecht anpassen, Schulen und Lehrer sind verpflichtet, darauf einzugehen. Ab dem 12. Lebensjahr darf die juristische Geschlechtsänderung auch in allen offiziellen Dokumenten erfolgen, zunächst noch unter Einbindung des Familiengerichts oder der Eltern, ab dem 16. Lebensjahr vollkommen eigenständig.

Platzt das neue LGBTI*-Gesetzpaket?

Die politische Stimmung im Land scheint inzwischen so aufgeheizt zu sein, dass auch viele LGBTI*-Menschen nun unter die Räder kommen könnten. In Madrid hat die rechte Volkspartei die absolute Mehrheit errungen und ist gerade dabei im ganzen Land Allianzen mit der rechtsextremen Vox-Partei einzugehen. Keine gute Ausgangslage für LGBTI*-Menschen – auch nicht für das eben erst beschlossene LGBTI*-Gesetzespaket, das Rechte von Homosexuellen und queeren Menschen im ganzen Land stärken hätte sollte. Ob das jetzt überhaupt noch umgesetzt werden kann, entscheidet maßgeblich die Wahl Ende Juli.

Ein Gesetz spaltet die Bevölkerung

Der britische Telegraph fasst in seiner Analyse die Sachlage so zusammen: „Keine Feministin freut sich über die Aussicht auf eine gestärkte Vox, aber die Wut, die bei den Wahlen zum Ausdruck kommt, ist eine Reaktion auf die Misshandlungen, denen zu viele Frauen ausgesetzt waren, zusätzlich zu den gesetzgeberischen Katastrophen, die einen Rückschlag für Spaniens historisch starke Frauenrechtsgesetzgebung darstellen. Im Februar verabschiedete die Regierung ein umstrittenes Transsexuellengesetz, dessen weitreichende Vorschläge von feministischen Gruppen und Oppositionsparteien einhellig verurteilt wurden. Jeder, der älter als 16 Jahre ist, kann nun sein Geschlecht in juristischen Dokumenten ändern, ohne dass eine ärztliche Überwachung erforderlich ist. Dieser Prozess der Geschlechtsidentifizierung wirkt sich negativ auf Frauenhäuser, Sport und Gefängnisse aus. Frauen, die sich dagegen wehrten, wurden verunglimpft, unabhängig davon, wie hochrangig oder prominent sie waren.“ Immer wieder sei es so in den letzten Wochen auch zu Demonstrationen gekommen, auch bei einer Kundgebung mit Gleichstellungsministerin Montero. Auf Plakaten von feministischen Gruppen war so in Richtung der Ministerin zu lesen: „Sie haben den Feministinnen nicht zugehört!“

Streitfall Sexualstrafrecht

Nebst dem Selbstbestimmungsgesetz wurde offenbar auch das neue Sexualstrafgesetz, umgangssprachlich „Nur Ja heißt Ja“ genannt, zum Fiasko. Die neue Gesetzgebung will zwar einerseits Frauenrechte stärken, sieht aber andererseits in gewissen Fällen eine niedrigere Mindeststrafe für Vergewaltigung vor, was inzwischen zur Folge hatte, dass bereits verurteilte Straftäter frühzeitig aus der Haft entlassen wurden. Bis Mitte Mai konnten nach offiziellen Angaben rund 1.000 Vergewaltiger ihre Strafe reduzieren und 108 wurden freigelassen. Zuerst stritt die Regierung jedwedes Problem ab, bevor man schlussendlich einräumte, das Gesetz noch einmal ändern zu wollen.

Die Wut der Frauen

Raquel Rosario Sánchez, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin an der Universität Bristol, erklärte dazu im britischen Telegraph: „Nach seinem Wahlsieg 2018 bezeichnete Pedro Sánchez seine Koalition als ´die fortschrittlichste Regierung´ in der spanischen Geschichte. Schön wär's. Keine Feministin, die ich kenne, freut sich über die Aussicht auf eine ermutigte harte Rechte. Aber das bedeutet nicht, dass eine harte Linke, die davon besessen ist, männliche Vergewaltiger in Frauengefängnisse zu stecken oder die weiblichen Kategorien bei Sportwettbewerben abzuschaffen, einen Freifahrtschein erhält. Wenn die spanische Linke annahm, dies seien leere Worte einer feministischen Bewegung, die weltweit für ihre Mobilisierungskraft bekannt ist, dann wurde ihr am Wahltag eine Lektion erteilt, dass man die Wut der Frauen nicht unterschätzen sollte.“

Auch Interessant

Outing im US-College-Football

Ein langer Weg zum eigenen Ich

Coming-Out im US-College-Football. Der gehypte Ex-Jungstar Jake Eldridge spricht erstmals über seinen Weg zum Coming-Out und sein neues Leben.
Erster schwuler Kandidat

Novum in Rumänien

Einzigartige Premiere: Erstmals tritt am kommenden Sonntag ein offen schwuler Mann bei den Parlamentswahlen in Rumänien an.
Hoffnungsschimmer in den USA

130 Städte kämpfen für LGBTI*

Hoffnungsschimmer in den USA: 500 Städte wurden unter die Lupe genommen – 130 von ihnen bekamen Top-Noten beim Einsatz für LGBTI*.
Definition einer Frau

Höhepunkt im britischen Rechtsstreit

Das Oberste Gericht in London verhandelt derzeit über die Frage, was genau eine Frau ist - zählen biologische Aspekte oder die Selbstdefinition?
Angriff auf JU-Politiker

Homophobe Attacke in Lüneburg

Eine Gruppe Migranten soll den JU-Politiker Simon Schmidt in Lüneburg brutal attackiert haben: „Wir stechen dich ab!“, riefen sie dabei laut Schmidt.
Denkmalpläne schreiten voran

"Für Capri und Roxi" in Hamburg

Auch das zweite Denkmal für die Community in Hamburg schreitet foran: "Für Capri und Roxi" soll an die Diskriminierung von Schwulen erinnern.
Homophober Hass in Nigeria

Ungestrafte Lynchjustiz gegen Schwule

Lebendig verbrannt oder begraben, zu Tode gefoltert: Die Mob-Gewalt gegen Homosexuelle in Nigeria nimmt massiv zu, die Polizei sieht weg.
Posse um Pride-Uhren

Malaysias Kampf gegen Homosexuelle

Die Posse um die beschlagnahmten Pride-Uhren von Swatch geht in Malaysia in die nächste Runde - die Uhren müssen zurückgegeben werden. Und nun?