Premiere im Bundestag LGBTI*-Verbände: Gedenkstunde ist ein wichtiges Signal für die Gegenwart
Der Deutsche Bundestag gedenkt heute zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik den homosexuellen und queeren Opfern der NS-Zeit. Lange Zeit hatte vor allem die Union, allen voran Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, eine solche Gedenkstunde verhindert.
Den Opfern eine Stimme geben
Neben vielen Politikern werden auch zahlreiche prominente und bekannte Persönlichkeiten aus der LGBTI*-Community an der heutigen Gedenkveranstaltung teilnehmen. Die lesbische Schauspielerin Maren Kroymann wird aus dem Leben von Mary Pünjer berichten, einer jungen Frau, die 1942 als Lesbe im KZ Ravensbrück hingerichtet worden ist. Der schwule Schauspieler Jannik Schümann trägt einen Text über Karl Gorath vor, einem schwulen Mann, der 1934 aufgrund des berüchtigten Paragrafen 175 (Unzucht unter Männern) zunächst ins Zuchthaus und später in mehrere Konzentrationslager kam. Er überlebte die NS-Zeit, nur um 1946 erneut aufgrund von schwulem Sex verurteilt zu werden – von demselben Richter, der ihn schon zur NS-Zeit verurteilt hatte. Diesen und vielen anderen homosexuellen und queeren Opfern soll mit der heutigen Gedenkstunde eine Stimme gegeben werden.
Streit um die Opfer-Frage
Kritik kam im Vorfeld bei der Frage auf, warum im Rahmen der Veranstaltung zumeist von “queeren“ Opfern gesprochen werden würde – einige LGB-Verbände sehen darin eine Verunglimpfung der hauptsächlich schwulen Opfer der NS-Zeit. Florian Greller vom schwulen Verein JUST GAY dazu gegenüber SCHWULISSIMO: „An der Auseinandersetzung zur Begrifflichkeit Queer sehen wir, wie aufgeladen die Stimmung ist. Nicht alle Homosexuelle verstehen sich als Queer und halten in diesem Zusammenhang den Begriff für richtig. Die Verantwortlichen für die Bezeichnung des Gedenktages hätten alle mitnehmen können, beispielsweise durch die Formulierung: ´Gedenktag für die Homosexuellen und Queeren Opfer der NS-Zeit´. Somit wären die Homosexuellen als Opfergruppe klar benannt worden und weitere Opfer aus dem Regenbogen wären berücksichtigt worden.“
Gräben innerhalb der Community
Greller betrachtet dabei mit Sorge die aktuellen Entwicklungen innerhalb der LGBTI*-Community: „Wir sehen leider gerade, dass die Gemeinschaft des Regenbogens immer mehr auseinanderbricht und die Gräben immer tiefer werden. Lassen wir es nicht soweit kommen. Wir sind gemeinsam im Regenbogen, ob Homosexuell, Queer, Trans- oder Intergeschlechtlich. Der Gedenktag sollte uns ein mahnendes Beispiel dafür sein, dass unsere Rechte und Unversehrtheit von staatlicher Seite nicht auf ewig garantiert sind und uns jederzeit wieder genommen werden kann. Die Konsequenzen daraus lehrt uns die Geschichte.“
Viel Leid in und nach der NS-Zeit
Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, bekräftigte zudem gegenüber SCHWULISSIMO: „In der Weimarer Republik gab es ein sichtbares Leben von LSBTIQ*. Nach der Machtübernahme durch die NSDAP wurden die Organisationen der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung von den Nationalsozialisten zerschlagen, Publikationen von Schwulen- und Lesbenorganisationen verboten, die Infrastruktur vollkommen zerstört. Der verschärfte § 175 StGB bedrohte auch bisexuelle Männer, trans* Frauen konnten ebenfalls danach verurteilt werden. Unverheiratete Frauen galten als verdächtig, Homosexualität wurde gesellschaftlich geächtet. Ein offenes, freies und selbstbestimmtes Leben war für alle LSBTIQ* undenkbar.
Im KZ Ravensbrück wurden auch gezielt lesbische Frauen und Mädchen von den Nazis inhaftiert, gefoltert, missbraucht und ermordet. Außerdem gab es ja LSBTIQ*, die als Jüd*innen, als politische Häftlinge oder als ´Asoziale´ verfolgt und ermordet wurden. Die Verfolgung homo- und bisexueller Männer und Frauen, insbesondere in der NS-Zeit, aber auch ihre Kontinuität in der BRD und der DDR, sind nicht ausreichend erforscht. Zur Geschichte von trans- und intergeschlechtlichen Menschen gibt es kaum Forschung. Aber auch die Dokumentation und damit das Sichtbarmachen sowohl der LSBTIQ*-Emanzipationsgeschichte im Allgemeinen als auch der Lebens- und Leidensgeschichten von einzelnen LSBTIQ* ist ein wichtiges politisches Zeichen für die Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt.“
Ein Gedenktag, auch für die Gegenwart
LGBTI*-Verbände sind sich einig darüber, dass der Gedenktag nicht nur aufgrund seiner Bedeutung bezüglich der Aufarbeitung begangenen Unrechts während des dritten Reiches wichtig ist, sondern auch die Mechanismen aufzeigt, mit denen in der Gegenwart bis heute Hass gegenüber der LGBTI*-Community immer mehr wieder kultiviert werden soll – beispielsweise allein in den USA, wo zuletzt binnen eines Jahres über 300 Anti-LGBTI*-Gesetze in die Parlamente der einzelnen Bundesstaaten eingebracht worden sind.
Ähnlich sieht das auch der queer-politische Sprecher der FDP, Jürgen Lenders: „Die Geschichte mahnt uns und zeigt, wozu Hass und Hetze führen. Auch heute werden Mitglieder der queeren Community hierzulande und weltweit diskriminiert und angefeindet. Jeden Tag gibt es drei Fälle von LSBTI-feindlicher Hasskriminalität in Deutschland, über 1.000 Fälle im letzten Jahr. In 69 Staaten wird Homosexualität noch strafrechtlich verfolgt, in 11 Ländern droht sogar die Todesstrafe für Lesben und Schwule. Ausgrenzung führt zu Gewalt, die Menschen müssen sich der Diskriminierung entgegenstellen. Wenn wir die Geschichte der Verfolgung von LSBTI* für künftige Generationen sichtbar machen, bewahren wir sie vor dem Vergessen und zeigen, dass Toleranz und Achtung anderen Menschen gegenüber nötig sind. Die Forderung ´Nie wieder!´ gilt auch für die Homosexuellen."
Alle queeren Opfer sind inzwischen tot
Bei der heutigen Gedenkstunde wird auch die Präsidentin des Deutschen Bundestags, Bärbel Bas, anwesend sein. Im letzten Jahr hatte sie freudig bekanntgegeben, dass es 2023 erstmals zu einem Gedenken kommen wird. Die Jahre zuvor hatten LGBTI*-Aktivisten sowie federführend der Autor und Historiker Lutz van Dijk jedes Jahr mit Petitionen für eine Gedenkstunde geworben. Er hatte dabei immer wieder erklärt: „Ein Gedenken an sexuelle Minderheiten der NS-Zeit betrifft alle Menschen in einer humanen Gesellschaft und nicht nur uns als Minderheiten.“
Da inzwischen aufgrund der langen Wartezeit keine LGBTI*-Opfer des dritten Reiches mehr am Leben sind, wird heute die jüdische Holocaust-Überlebende Rozette Kats sprechen. Sie wurde 1942 geboren und überlebte nur, weil ein Ehepaar in Amsterdam sie als ihr eigenes Kind ausgab. Ihre leiblichen Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biografie setzte sie sich viele Jahre lang auch für sexuelle Minderheiten ein, so die Pressestelle der Bundesregierung im offiziellen Statement.