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Kuscheln mit Homohass-Staaten
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Menschenrechte? Bitte nicht jetzt! Die Politik duckt sich abermals weg – es gibt schließlich Wichtigeres, oder?

ms - 15.07.2022 - 14:30 Uhr

[KOMMENTAR] Die Redaktion der Zeit Online betitelte diese Woche einen Artikel über US-Präsident Joe Biden mit den schönen Worten: Erst die Interessen, dann die Moral. Im Bericht selbst wird dabei erklärt, wie sich der amerikanische Präsident aktuell und notgedrungen aufgrund der Gas-Engpässe durch den Ukraine-Krieg und der Blockadehaltung von Russland mit dem mordverdächtigen saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman treffen muss und höchstwahrscheinlich neue Handelsabkommen abschließen wird – bis 2019 hatte Biden die Mordlust von Salman noch sehr scharf und öffentlich verurteilt.

Nun stimmen wahrscheinlich wenige Phrasen so sehr wie eben jene: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern? Und natürlich ist es auch durchaus sinnvoll, in einer Ausnahmesituation wie der aktuellen nach neuen Verbündeten zu suchen, um die Versorgungssicherheit der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten. Das gilt für die USA genauso wie für Deutschland, wo Wirtschaftsminister Robert Habeck im März und im Juni auf Kuschelkurs mit Staaten im Nahen Osten und den Vereinigten Arabischen Emiraten gegangen war. Das Ziel dahinter war auch hier die Sicherstellung der Energieversorgung – in Berlin nennt man das gerne auch Realpolitik. Es ist Habeck auch nicht anzukreiden, dass man sich in den vergangenen zwanzig Jahren politisch zu sehr auf den scheinbaren krisensicheren Partner Russland eingelassen hat. Trotzdem erleben erneut homosexuelle Menschen, dass allgemeine Menschenrechte und die Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben anscheinend mit einem einfachen Fingerschnippen einmal mehr zur Seite gewischt werden, wenn es um scheinbar wichtigere Dinge geht.

Das Verständnis für solche Maßnahmen ist auch innerhalb der Gay-Community durchaus groß und trotzdem aber altbekannt. In den vergangenen fünfzig Jahren hörten viele Homosexuelle und auch queere Menschen immer wieder, dass es gerade ungünstig sei, ihre Menschen- und Grundrechte zu beachten. Weltlage und so, gerade gäbe es doch anderweitig so viele Probleme; “Kommt doch wieder, wenn es gerade gut läuft, okay?“ Nur, wann läuft es denn gut? Denn irgendwas ist immer. Und irgendwas ist immer gerade wichtiger. Wenn das übrigens noch nicht als Absageerklärung genügt, wird unisono gerne noch beigefügt: Da könne man halt nichts machen. Man sei eben selbst auch nur ein Teil im Getriebe der Weltpolitik.

Das mag in Zeiten von Kriegen, die es allerdings in den letzten Jahrzehnten auch bedauerlicherweise “schon immer“ irgendwo auf der Welt gab, alles zweitrangig sein. Als diese Woche beispielsweise auch bekannt wurde, dass über 25.000 Menschen in der Ukraine im Zuge der Eintrittsbemühungen in die EU Präsident Selenskyj dazu aufforderten, rechtliche Schritte zur Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe anzugehen, dauerte es nicht lange, bis die ersten empörten Stimmen aus der Gay-Community zu hören waren: “Gibt es denn nichts Wichtigeres jetzt?“ Gibt es, sicherlich, aber bedeutet das, man darf nicht einmal mehr über grundsätzliche Werte wie Gleichberechtigung und Menschenrechte diskutieren, wenn ein neues Land offiziell eine Mitgliedschaft in jener Europäischen Union beantragt, die sich selbst zur LGBTI*-Schutzzone erklärt hat? Macht ein Krieg alle Menschenrechtsfragen obsolet oder zweitrangig? Mit welchem Recht kritisieren wir dann künftig Länder wie Ungarn oder Polen, die die Rechte von Homosexuellen gerade massiv mit Füßen treten, wenn wir freudig einen neuen EU-Bündnispartner aufnehmen wollen, in dessen Land homosexuelle und queere Menschen bestenfalls weitestgehend rechtsfrei geduldet sind?

Aber ja, es gibt Wichtigeres. Und die Weltpolitik ist kompliziert. Allerdings nicht immer. Blickt man beispielsweise nach Katar, jenem Land, das seine Homosexuellen gerne direkt hinrichten lässt, könnte man doch als souveräner Staat zur Fußballweltmeisterschaft im November Rückgrat zeigen? Dummerweise könnte uns Katar künftig nun auch mit Gas beliefern. Da ist sie wieder, diese komplexe Weltlage. Und so bleibt unserer Bundesinnenministerin Nancy Faeser diese Woche gegenüber N-TV auch nur übrig zu sagen, dass ein Boykott des homophoben sowie menschenrechts- und demokratiefeindlichen Emirats falsch wäre, denn man verlagere die Verantwortung der Politik auf den Sport. Und das wäre ungerecht für alle Sportler. Man möge Frau Faeser dabei gerne erklären, dass eine Verlagerung der Verantwortung hin zum Sport nur dann und deswegen möglich ist, weil die Politik genau dieser Verantwortung seit Bekanntgabe des Austragungslandes der Fußballweltmeisterschaft 2022 nicht nachkommt. Aber das wäre dann wieder so schwierig und komplex, so ist sie eben, diese Politik. Mutig will die Bundesinnenministerin aber dann vor Ort das Thema ansprechen, erklärte sie mit festem Blick. Sie sollte dabei vielleicht nicht erwähnen, dass sie erst im Mai unter Beifall der Stadtpresse erstmals und höchstpersönlich vor dem Bundesinnenministerium die Regenbogenflagge als Zeichen der Solidarität gehisst hatte und das punktgenau am Internationalen Tag gegen Homofeindlichkeit. Das sei, so wurde erklärt, ein Signal, das verpflichtet. In Katar muss sie damit aufpassen, denn die oberste Sicherheitsbehörde des Emirats erklärte erst vor kurzem, dass man jene Symbole der Gay- und Queer-Community sofort bei Einreise von homosexuellen Touristen konfiszieren werde. Bei Zuwiderhandlung drohe auch für ausländische Besucher ein Gefängnisaufenthalt. Da darf sich der schwule Tourist dann übrigens noch darüber freuen, denn als Einheimischer würde er dafür direkt mit der Todesstrafe belegt werden. So ist die Politik in Katar doch vielleicht gar nicht so menschenverachtend wie gedacht, oder? Am Ende hat unsere Ministerin also vielleicht doch recht: Auch von Katar geht ein Signal aus, das verpflichtet – fragt sich nur wen und zu was? Aber das klären wir ein anderes Mal, denn wir wissen ja inzwischen, Politik ist kompliziert und um die Menschenrechte kümmern wir uns dann einmal, wenn alles gerade super läuft auf der Welt.

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