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Doppelmoral im Fall Katar?
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Doppelmoral im Fall Katar? Überraschen uns die jüngsten Äußerungen über Homosexuelle wirklich?

ms - 09.11.2022 - 10:00 Uhr

Kommentar

Boykott, Reisewarnung oder politische Statements – die Forderungen nach den jüngsten verbalen Entgleisungen von Seiten Katars werden seit der gestrigen Ausstrahlung der ZDF-Dokumentation "Geheimsache Katar“ über die Menschenrechtslage im Emirat erneut laut. Im Interview hatte der katarische WM-Botschafter Khalid Salman Homosexualität als "geistigen Schaden" bezeichnet. Der mediale Aufschrei ließ nicht lange auf sich warten, mehrere Politiker kommentierten und verurteilten die Äußerungen scharf und schlussendlich forderte auch der Lesben- und Schwulenverband Deutschland Konsequenzen, dazu zählen eine offizielle Reisewarnung seitens des Auswärtigen Amtes, eine Absage aller diplomatischer Reisen sowie der Boykott der Spiele selbst.

Aufregung als reine Symbolpolitik?

Was in all der Aufregung einmal mehr zu kurz kommt, ist die Anmerkung, dass es sich hier abermals um reine Symbolpolitik handelt. Eine explizite Reisewarnung klingt gut, doch nach Rückfragen bei mehreren queeren Reisebüros zeigt sich, dass so gut wie kein homosexueller Mensch mit ein wenig Verstand überhaupt in ein Land reisen will, in dem ihm mehrjährige Haftstrafen oder sogar die Todesstrafe droht. Auch die jetzt abermals mediale Empörung ist in weiten Teilen heuchlerisch, denn das Emirat lässt seit Jahren bereits keinen Zweifel daran, wie sie zu Homosexuellen stehen. Und wie sie mit Homosexuellen im eigenen Land verfahren.

Einzig DFB-Chef Bernd Neuendorf scheint davon gestern vollkommen überrascht gewesen zu sein – anders lässt sich sein Statement kaum deuten: "Die Äußerung diskreditiert die gesamte LGBTIQ-Community und offenbart ein überaus problematisches Verhältnis zu den Menschenrechten.“ Ach, tatsächlich? Natürlich ist es falsch, Homosexuellen einen geistigen Schaden zu attestieren, doch angesichts diverser anderer Äußerungen über Homosexuelle in den letzten Jahren von stark gläubigen Muslimen aber auch so manchem Christen beinahe noch harmlos. Zudem: Wer ernsthaft an all die Beteuerungen der FIFA über die angeblich verbesserte Menschenrechtslage in Katar geglaubt hat, dem ist nicht mehr zu helfen, mehr noch, der blendet auch all die Hilferufe von Homosexuellen und LGBTI*-Organisationen vor Ort aus, die seit Monaten immer wieder erklären, dass sich im Emirat nichts geändert hat.

Die WM wird nichts ändern

So offenbaren all die jetzigen Forderungen noch eine andere Problematik: Der Blick richtet sich abermals hauptsächlich auf die Frage, wie es um die Sicherheit der WM-Besucher bestellt sein mag und vergisst die Menschen vor Ort ganz. Amnesty International bestätigte erst vor wenigen Tagen erneut, dass es keine empirisch fundierten Daten darüber gibt, dass jemals ein Sportgroßereignis in den letzten Jahrzehnten zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage vor Ort beigetragen habe. Die Fußballweltmeisterschaft in Katar wird an der lebensbedrohlichen Lage für Homosexuelle im Emirat nichts ändern.

All die jetzt erneut laut werdenden Stimmen von politischer Seite wissen das wahrscheinlich auch und so stellt sich die Frage, ob all die so scheinbar mutig vorgetragenen Forderungen nicht viel mehr sind als eine Beruhigung für das eigene Gemüt? Wir sind die Guten, denn wir haben ja verbal protestiert. Je lauter diese Forderungen, desto mehr offenbaren wir unsere Hilflosigkeit in dieser Situation, noch dazu, wo die Bundesrepublik in puncto Energieversorgung eng mit dem Emirat zusammenarbeitet. Das Emirat selbst werden all die Statements nicht wirklich interessieren, es plant bereits weitere Mega-Sportevents, im Gespräch ist sogar Olympia. 

Deutschland in der Zwickmühle?

Weder trägt Deutschland die Schuld an der Vergabe der Spiele noch an der Situation vor Ort. An den Machenschaften der FIFA indes konnte oder wollte die Staatengemeinschaft bis heute nicht wirklich viel ändern. ZDF-Talkmaster Markus Lanz fragte sich gestern, ob es nicht eine extreme Form der Doppelmoral sei, die hier gerade vor unseren Augen stattfindet. Die gleiche Kritik kam von Katars Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al-Thani in der FAZ, der über die geforderten Sicherheitsgarantien von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte: "Bei allem Respekt, diese waren überhaupt nicht notwendig. Wir haben immer wieder von höchster Stelle wiederholt, dass jeder willkommen ist und niemand diskriminiert wird. Es ist bedauerlich, wenn Politiker versuchen, sich nach innen auf unsere Kosten zu profilieren und Punkte zu machen". Gleiches wurde gestern auch in der ZDF-Dokumentation deutlich: Touristen sind in Katar willkommen und von Seiten aller staatlicher Organe auch sicher.

Das ändert aber natürlich nichts daran, dass schwule Kataris weiterhin massive Probleme haben. Bei aller verständlicher Aufregung über die jüngsten Äußerungen von Seiten Katars, bleibt trotzdem so ein wenig jetzt der Eindruck haften, dass es manchem Kritiker mehr um die eigene Profilierung oder die Beruhigung des eigenen Gewissens geht, als um tatsächliche Hilfe. Aber wenigstens greift der DFB jetzt hart durch, nachdem Neuendorf das „problematische Verhältnis zu Menschenrechten“ erkannt hat. So erklärte der DFB mutig, man werde weiterhin “Impulse für positiven, progressiven Wandel unterstützen.“ Das hat die Scheichs in Katar mit Sicherheit tief beeindruckt und für einen sofortigen Sinneswandel zum Wohle der einheimischen Homosexuellen gesorgt.

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