Kollaps in der HIV-Versorgung Fachverbände warnen vor fataler Entwicklung
In den kommenden Jahren kann es im Bereich HIV zu erheblichen Versorgungsengpässen kommen, ab 2035 könnten über 130 spezialisierte HIV-Ärzte fehlen – das entspricht 26 Prozent der benötigten Experten. Mit dieser Warnung meldete sich die Deutsche Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin, kurz dagnä, die Deutsche AIDS-Gesellschaft (DAIG) und die Deutsche AIDS-Stiftung (DAS) zu Wort. SCHWULISSIMO fragte nach bei Dr. med. Michael Sabranski, Infektiologe und HIV-Schwerpunktmediziner am ICH in Hamburg und Vorstandsmitglied der dagnä.
Die dagnä, die DAIG und die DAS haben eindringlich vor Versorgungsengpässen bei der spezialisierten Behandlung von Menschen mit HIV gewarnt. Bereits 2035 könnte uns ein „Kollaps“ bevorstehen. Wie sind Sie zu diesem Schluss gekommen und was könnte uns da in den kommenden Jahren erwarten?
Zu dem Schluss sind wir nicht selbst gekommen. Zusammen mit der DAIG und der DAS haben wir das IGES-Institut beauftragt, ein umfassendes, datenbasiertes Gutachten über die HIV-Versorgung in Deutschland zu erstellen – denn dies gab es in der Form vorher nicht. Aktuell funktioniert die Versorgung der etwa 85.000 Menschen mit HIV in Deutschland sehr erfolgreich, das gewährleistet unser breites Netzwerk von rund 200 spezialisierten Schwerpunktpraxen im Land. Dies hat das Gutachten bestätigt. Doch es hat auch klar gemacht, was wir vorher nur befürchten konnten: Weil die Patient:innen dank der erfolgreichen Therapie immer älter werden, wird ihre Gesamtzahl in den kommenden Jahren stark anwachsen, während die Zahl der Schwerpunktpraxen stagniert. Bleibt die Zahl der jährlichen HIV-Neudiagnosen etwa gleich, wird es in zehn Jahren knapp 100.000 Patient:innen geben, die Zahl der beanspruchten HIV-Leistungen könnte sich laut Gutachten dabei um 44 Prozent erhöhen – und hier ist die Behandlung altersbedingter Begleiterkrankungen noch nicht eingerechnet. Es könnten mehr als 130 spezialisierte Ärzt:innen fehlen. Besonders auf dem Land müssen wir dann mit massiven Beeinträchtigungen in der Versorgung rechnen.
Ein paradoxes Problem: Einerseits ist die Nachricht, dass Menschen mit HIV immer älter werden, sehr gut, andererseits verstärkt sich dadurch ein Problem beim medizinischen Angebot. Wo sehen Sie hier die Kernprobleme?
Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung konzentriert sich die Altersverteilung der HIV-Schwerpunktpatient:innen aktuell deutlich stärker auf die mittleren Altersgruppen, in zehn Jahren werden viele das Rentenalter erreicht haben. Einfach gesagt: Je älter die Menschen werden, desto komplexer werden die Erkrankungen – es treten häufiger chronische Infektionen, Stoffwechselstörungen und psychiatrische Erkrankungen auf. Das hat natürlich Auswirkungen auf eine bestehende HIV-Behandlung, die ohnehin immer komplex ist. Die regelmäßige Überwachung und eventuelle Anpassung der medikamentösen Therapie werden umso wichtiger. Und umso schwerer, wenn einfach nicht genug Praxen in der Nähe sind, oder die Menschen nicht mehr mobil genug sind, um sie zu erreichen.
Ein großes Problem im Bereich HIV ist seit Jahren auch die Tatsache, dass sich offenbar immer weniger Ärzte und Ärztinnen hier noch spezialisieren lassen wollen. Zu zeitaufwendig, zu kostenintensiv, gerade wenn bei Spezialisierungen in diesem Bereich die eigene Praxis hintenanstehen muss, so das Feedback mancherorts. Darüber hinaus wird an immer wenigen Zentren hierzu gelehrt und ausgebildet. Wie sehen Sie die Problematik?
Wir beobachten grundsätzlich ein großes Interesse bei jungen Mediziner:innen an unserem Fach, gerade an der ambulanten Versorgung – denn viele HIV-Schwerpunktpraxen bieten eine einzigartige Mischung aus hausärztlicher Versorgung und Fachspezialisierung, die viele junge Ärzt:innen sehr attraktiv finden. Doch die fragen sich natürlich auch, ob das System eine Zukunft hat. Viele sind unsicher, ob die ambulante HIV-Versorgung in Zukunft noch in ihrer heutigen Qualität angeboten werden kann. Schon heute muss immer wieder um die Finanzierung wichtiger Leistungen gekämpft werden – viele fragen sich, ob man es sich in zehn Jahren noch leisten könne, etwa eine PrEP-Prophylaxe anzubieten. Die jungen Mediziner:innen wollen wissen: Wie geht es weiter? Lohnt sich eine Niederlassung? Wenn man ihnen eine Perspektive bietet, dann kommen sie auch.
Schon jetzt haben wir im Gesundheitsbereich im ländlichen Raum streckenweise Engpässe, die Studie zeigt auf, dass die Dramatik hier wohl noch zunehmen wird, gerade, wenn es sich um Menschen mit HIV handelt. Was befürchten oder erwarten Sie hier in den kommenden Jahren? Und warum spitzt sich die Lage im Ländlichen immer weiter zu?
Schon heute beobachten wir eine Verdichtung der Schwerpunktpraxen auf den urbanen Raum – die meisten gibt es in Metropolen wie Berlin, Hamburg, Köln und München. Dort leben auch die meisten Menschen mit HIV, aber eben bei weitem nicht alle. Heute reicht die niedrigere Dichte der Schwerpunktpraxen auf dem Land noch aus, um die Menschen dort adäquat zu versorgen. Aber für die Ärzt:innen, die dort bald in den Ruhestand gehen möchten, wird es immer schwerer, eine Nachfolge zu finden. Je größer die Lücken im Netz der Schwerpunktpraxen werden und je älter die Patient:innen sind, desto komplizierter wird die Versorgung der Menschen in ländlichen Gebieten. Schon heute gibt es Menschen mit Ende 50 in Brandenburg, die für ihre HIV-Behandlung alle drei Monate in die Praxis ihres Vertrauens nach Berlin reisen. In zehn Jahren, mit Ende 60, wird das für einige dieser Menschen nicht mehr so einfach möglich sein – wegen anderer Krankheiten, Mobilitätseinschränkungen, Erschöpfung. Wie sollen diese Menschen dann noch zu uns kommen?
Nebst der direkten Versorgung eines Menschen mit HIV mangelt es auch immer stärker an psychosozialen Unterstützungsangeboten. Wie sieht die Lage hier aus und was kommt hier künftig auf uns zu?
Die psychosoziale Unterstützung und Beratung sind für viele Menschen mit HIV von unschätzbarem Wert. Auch hier haben wir heute dank eines großen Netzwerks hochkompetenter, beratender Einrichtungen wie den lokalen Aidshilfen oder HIV-Checkpoints in Deutschland eine Versorgungsstruktur, auf die wir stolz sein können. Auch deren Präventionsprogramme sind unverzichtbar. Leider beobachten wir, dass überall die Mittel zusammengestrichen werden. Dabei müsste das Gegenteil passieren. Viele der Einrichtungen können sich auf Dauer nicht finanzieren, wenn es so weitergeht.
Nach wie vor ist das Thema Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit HIV im Gesundheitsbereich ein großes Problem. Immer wieder erfahren HIV-positive Patienten Ablehnung oder Diskriminierung von medizinischem Fachpersonal – die Folge ist schlimmstenfalls ein genereller Rückzug aus der lebenswichtigen Versorgung. Wie bewerten Sie das Problem?
Ich möchte hoffen, dass es heute besser ist als noch vor zwanzig Jahren. Aber auch bei einigen Allgemein- oder Fachärzt:innen herrscht außerhalb der Schwerpunktpraxen oder der infektiologischen Stationen leider noch viel Unkenntnis, was das Thema HIV betrifft – das kann zu diskriminierendem oder stigmatisierendem Verhalten führen. Hier muss in der Ausbildung angesetzt werden, das Thema HIV muss wie die Infektiologie insgesamt einen größeren Raum sowohl im Medizinstudium wie auch in der Pflege- sowie der MFA-Ausbildung einnehmen. Neben Empathie braucht es vor allem Fachwissen.
Was wünschen Sie sich konkret, welche Schwerpunkte müssen in den nächsten Jahren gesetzt werden?
Ein Hauptziel muss sein, die Ausweitung regionaler Lücken in der HIV-Versorgung zu verhindern. Es müssen telemedizinische Strukturen mit Konsiliar-Möglichkeiten gefördert werden, sodass flächendeckend eine Anbindung an die HIV-Spezialversorgung gewährleistet werden kann. Ergänzend bietet sich auch die Finanzierung von Transportmöglichkeiten in strukturschwachen Regionen an. Das kann neben den Menschen mit HIV auch vielen anderen Versorgungsbereichen und Patientengruppen helfen. Auch muss der ärztliche Nachwuchs in der HIV-Schwerpunktversorgung viel stärker gefördert werden. Es gibt heute vielfältige Maßnahmen zur Nachwuchsförderung in der hausärztlichen Versorgung – doch die unterschiedlichen Förderformen sollten systematisch die Teilnahme an der HIV-Schwerpunktversorgung einbeziehen. Hier geht es auch um die Weiterbildungsbefugnis, damit genug ausgebildet werden kann. Internistischen HIV-Schwerpunktpraxen zum Beispiel sollte es ermöglicht werden, einzelne allgemeinmedizinische Anforderungskriterien auch in Kooperation mit anderen Praxen zu erfüllen, um die Weiterbildungsbefugnis zu erhalten. Klar ist aber auch, dass die für die HIV-Behandlung erforderliche Expertise nicht allein im hausärztlichen Bereich erworben werden – speziell, wenn es um Patient:innen mit fortgeschrittenem Immundefekt oder schweren Begleiterkrankungen geht. Deswegen müssen Fachärzt:innen, die aus den Kliniken kommen und eine Infektiologie- oder HIV-Spezialisierung haben, die Möglichkeiten zur Niederlassung bekommen. Und wie schon erwähnt, ist es wichtig, dass die geriatrische und die psychosoziale Versorgung von HIV-Patient:innen ausgebaut wird. Wegen der starken Alterung der Patient:innen in den kommenden Jahren müssen sich Schwerpunktpraxen mit geriatrischen Versorgungseinrichtungen vernetzen, zum Beispiel in Form von Konsilien oder gemeinsamen Qualitätszirkeln. Dafür braucht es strukturelle Voraussetzungen und Abrechnungsmöglichkeiten. Auch in der Langzeitpflege wird HIV als Grund- oder Begleiterkrankung häufiger auftreten. Daher sollte der Umgang mit an HIV erkrankten Pflegebedürftigen verstärkt in der Ausbildung von Pflegefachkräften verankert werden. Auch psychosoziale Fachkräfte sollten durch Kooperationen stärker in die Arbeit der HIV-Schwerpunktpraxen integriert werden.
Sie betonten auch die PrEP und die Wichtigkeit eines Ausbaus des Angebots. Wie kann das gelingen und was würden Sie sich hier erhoffen?
Die Verbreitung der PrEP muss als Präventionsmethode unbedingt weiter unterstützt werden, ihre äußerst hohe Wirksamkeit ist unbestritten – sie muss auch Gruppen zugänglich gemacht werden, die sie jetzt schon brauchen, aber im schlimmsten Fall nicht einmal wissen, dass es sie gibt. Im Moment wird die PrEP fast ausschließlich von Männern genutzt, die Sex mit Männern haben – innerhalb dieser Gruppe sinkt seit der PrEP-Einführung die Zahl der jährlichen HIV-Neuinfektionen, was die Wirksamkeit dieser Präventionsmethode unterstreicht. Die Zahl steigt aber bei heterosexuellen Frauen, die zum Beispiel Sexarbeit nachgehen und bei Menschen, die intravenös Drogen konsumieren. Auch diese Gruppen können von der PrEP profitieren – das müssen aber erst mal ihre Ärzt:innen wissen. Heißt: Wir müssen also auch zum Beispiel Gynäkolog:innen und Suchtmediziner:innen für das Thema sensibilisieren.
Gibt es im Bereich der HIV-Versorgung Aspekte, die oftmals vielleicht vergessen oder nicht mitgedacht werden?
Wir müssen uns Strategien überlegen, wie wir die Patientengruppen erreichen, die lange Zeit oft übersehen wurden. Neben Sexarbeitenden und Drogenkonsument:innen geht es hier vor allem auch um Menschen ohne Krankenversicherung, die nur eingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem haben. Wir haben heute exzellente Therapiemöglichkeiten – und die müssen allen zugänglich gemacht werden, die sie brauchen.
Herr Dr. Sabranski, vielen Dank für das Gespräch.