Besonderer Jugendaustausch LGBTIQ+-Jugendliche aus Tallinn zu Gast beim LSVD+ Hamburg
Der LSVD+ Hamburg hat in diesem Jahr erneut einen Jugendaustausch mit Tallinn organisiert. Zuerst ging es im Mai nach Estland, jetzt waren im August junge queere Menschen aus dem nordeuropäischen Land in der Hansestadt zu Besuch. Wie dieses besondere Erlebnis war, hat Wolfgang Preussner vom LSVD+ Hamburg SCHWULISSIMO verraten.
Wolfgang, wie war das Treffen, was habt ihr erlebt?
Wir hatten zusammen ein Programm erstellt. Besuch von Projekten in Hamburg, Gespräch im Rathaus mit den queerpolitischen Sprecher*innen und mit der Senatorin Maryam Blumenthal und wir haben eine Rathausführung bekommen. Natürlich gab es auch Freizeit für Museumsbesuche und anderes und am Wochenende den Dyke* March, die politische Demonstration und zwei Tage für die Esten Informationsstand auf dem Jungfernstieg.
Estland gilt als ein relativ liberales Land in puncto LGBTIQ+ - trotzdem kann ich mir vorstellen, dass es im Vergleich zum freien queeren Lebensgefühl in Hamburg doch zu einem „positiven Kulturschock“ kommen kann, oder?
Ja, wenn man bedenkt, Estland hat nur 1,3 Millionen Einwohner und dann sind beim Dyke*March schon 2.000 und bei der CSD-Demonstration 250.000 Menschen dabei. Da waren sie zum Teil schon überfordert. Auch in der ganzen Stadt die Regenbogenfahnen waren überwältigend. Das gibt es so in Tallinn noch nicht.
Mit welchen Sorgen und Ängsten kämpfen die queeren Organisationen vor Ort?
Die Projekte in Estland / Tallinn wurden die letzten Jahre von den USA unterstützt. Nun bricht das alles weg und einige wissen nicht, ob sie im nächsten Jahr noch arbeiten können.
Abseits des Offensichtlichen, warum ist für den LSVD+ Hamburg ein solcher Austausch so wichtig?
Wir führen ja schon seit 2011 diese Begegnungen durch. Erst mit St. Petersburg (25x) und nun mit Tallinn (7x) . Wir wollen die queeren Projekte unterstützen und gegenseitig voneinander lernen. Wir vernetzen die Projekte in Hamburg und Tallinn und daraus kann viel Gutes hervorgehen, trotz aller Schwierigkeiten.
Die queere Jugend steckt seit Jahren in der Krise, Corona und der Rollback von Akzeptanz haben diese Situation vielerorts noch verstärkt, auch in Deutschland. Sind queere Jugendliche in Deutschland und Estland vereint bei diesen Sorgen oder gibt es spezielle Hoffnungen, Sorgen oder Wünsche, die in Estland besonders ausgeprägt sind?
In Deutschland haben wir eine lange Tradition. Manche Projekte gibt es ja schon über vierzig Jahre. Das ist in Estland noch nicht so. Die längsten Projekte gibt es maximal seit fünf bis sechs Jahren. Unsere Partnerorganisation Q-Space erst seit 2022. Sie versuchen mit den wenigen Mitteln dennoch für die Estnisch-Russisch-sprechende Community Filmfeste, Workshop und vieles mehr durchzuführen.
Gibt es besondere Erlebnisse oder Situationen, die euch beim Treffen in Erinnerung geblieben sind? Oder Dinge, die euch vielleicht ein Schmunzeln ins Gesicht zaubern?
Na ja, da sie die Massen von Menschen nicht gewohnt sind, hatten sie schon Respekt vor den Demos. In Tallinn gehen maximal 1.000 Menschen auf die Straße und der CSD geht auch nur fünf Stunden inklusive den Infoständen. Den Informationstand, zusammen mit dem LSVD+, haben sie sehr gut betreut.
Estland ist ein direkter Nachbar von Russland. Besteht unter queeren Jugendlichen hier auch die Angst, wie sich die Situation mit dem „großen Bruder“ in den nächsten Jahren weiterentwickeln wird, gerade angesichts der Tatsache, dass in Russland LGBTIQ+ immer mehr massiv eingeschränkt wird?
In Estland leben ja viele, aus Russland geflohene Menschen. Queere Menschen aus den Projekten, mit denen wir schon zusammengearbeitet haben. In Estland liegt der Bevölkerungsanteil der Russen bei rund 24 Prozent. Bei den Menschen, mit denen wir direkt zu tun haben, gibt es derzeit zum Glück keine Ängste. Da einige ja auch erst kurz in Estland sind und sich erst finden müssen, haben Dinge wie Wohnung und Ausbildung hier Priorität.
Wie wichtig ist das Austauschprogramm für queere junge Menschen in Estland?
Der Austausch ist ein sehr wichtiger Punkt – und für viele in Estland ist es ein Anreiz, in den Projekten ganzjährig mitzuarbeiten und dazu auch nach Hamburg zu kommen. Viele verlassen dadurch erstmals ihr Land.
Wie sehen die Zukunftspläne aus? Wird es weitere Austauschprogramme in den nächsten Jahren geben? Vielleicht auch mit anderen Ländern?
Wir wollen natürlich weiter den Austausch durchführen. Andere Länder gerne, dazu fehlen uns aber die Mitarbeiter*innen, die das organisieren. Vorstandsarbeit will heute keiner mehr machen. Wir suchen dringend in Hamburg Nachwuchs.
Deine abschließenden Worte?
Wir möchten an dieser Stelle Danke sagen der Freien und Hansestadt Hamburg und dem Bund, die unsere Maßnahmen immer unterstützt haben. Ohne die Förderung wären die Begegnungen nicht möglich. Und natürlich Dank den Projektleuten in Hamburg, die wir immer mit einbeziehen und die alle schon so viele Jahre dabei sind.
Wolfgang, vielen Dank für das Interview.