Jürgen Domian Nachttalker der Republik
Jürgen, was wirst du nun an deinen freien Abenden machen?
Ich freue mich zunächst sehr auf ein normales Leben und einen normalen Lebens-Rhythmus. Das ist ja der Hauptgrund, warum ich aufhöre. Ich könnte die Sendung noch zehn Jahre lang machen, aber ich möchte nicht mehr nachts arbeiten. Da muss ich mich zunächst umstellen und das wird ein schwieriges Unterfangen; ich werde einen „Jet-Lag“ haben. Am 15. Januar wird in Gelsenkirchen meine Talk-Tournee durch NRW starten, wo ich u.a. in Oberhausen, Duisburg und Düsseldorf Geschichten aus all den Jahren erzählen werde. Damit ist ein normaler Tagesablauf gegeben.
Wird es dein Format in einer anderen Form weitergeben?
Soweit ich weiß, nicht. Das entscheiden die Direktoren des WDR. Aber es war definitiv meine Entscheidung, aufzuhören.
Kann man nach so einer Sendung abschalten und schlafen gehen?
Ich habe alles ausprobiert, aber kein Mensch kann direkt nach der Arbeit schlafen gehen. Trotz aller Routine war ich immer mit Adrenalin geflutet. Vor fünf oder halb sechs bin ich nie in den Schlaf gekommen. Und vor 14 Uhr war ich auch nicht ansprechbar.
Du hast psychotherapeutische Dienste geleistet, geht das nicht schwer an die eigene Seele?
Eigentlich nicht. Ich glaube, dass ich von den vielen Gesprächen mit den unterschiedlichsten Menschen sehr profitiert habe. Was für mich das Wertvollste ist: dass ich im Laufe der Zeit Demut gelernt habe. In Anbetracht der oftmals so dramatischen und traurigen Fälle habe ich oft gedacht, wie hervorragend es mir doch geht und dass ich froh sein kann, so ein gutes Leben zu haben.
Gibt es noch Freunde; du hattest ja kaum Zeit für Abendveranstaltungen?
Bisher musste ich immer arbeiten, wenn meine Freunde Feierabend hatten und ihren Abend planen konnten. Mein Sozialleben hat in der Zeit sehr gelitten, weil ich private Dinge immer nur am Wochenende machen konnte. Dadurch sind viele Kontakte verloren gegangen. Einige sehr stabile Freundschaften allerdings sind übrig geblieben. Das sind Freunde, die meine Situation gut verstanden haben und nicht beleidigt waren, wenn ich zum zehnten Mal wieder abgesagt habe.
Mal sehen, was in den Jahren hängen geblieben ist: Kannst du dich an den ersten Anruf erinnern?
An den ersten nicht; aber sehr gut an den ersten jungen Mann, der mich vom Sterbebett aus anrief. Da wurde mir zum ersten Mal klar, was für Kreise diese Sendung zog. Vorher hatte ich geglaubt, unser Format ist eher ein Plaudern über Gott und die Welt, so nach amerikanischem Vorbild. Das änderte sich aber mit Hubert, so hieß der Mann, Anfang 30, Leukämie im Endstadium. Zuerst war ich geschockt und auch unsicher. Aber das Gespräch funktionierte sofort. Ich habe mich einfach so mit ihm unterhalten, wie ich es auch privat getan hätte.
Was war die lustigste telefonische Begegnung und was hat dich betroffen gemacht?
Das ist bei fast 23.000 Interviews eine ganz schwere Frage. Was mich jedes Mal betroffen gemacht hat, waren die Gespräche mit sterbenden, schwer traumatisierten Menschen und mit denen, die gerade jemanden verloren hatten. Wie die Mutter, deren Kind entführt, sexuell missbraucht und ermordet wurde. Oder die Ärztin, die im Sterben lag und sich bei mir noch verabschieden wollte, weil sie Fan meiner Sendung war. So etwas vergisst man nicht so leicht. Bei den eher schrägen Sachen kommen wir in den Bereich der Erotik. Das war der Anrufer, der zum ersten Mal in der Öffentlichkeit über Objektsexualität sprach: ein Mann, der seine Heimorgel liebt. Das fand ich ausgesprochen bizarr. Mittlerweile gibt es exklusive Dokumentationen, die darüber berichtet haben. Da habe ich gelernt, wie facettenreich Sexualität ist und dass sie nicht nur in die Kästchen schwul, lesbisch, bisexuell einzuteilen ist.
Was veranlasst Menschen ihre Sorgen, Ängste und Probleme einem Fremden eher als den Eltern, Geschwistern und Freunden anzuvertrauen?
Schon seit den 90er Jahren haben sich immer wieder wissenschaftliche Arbeiten mit unserer Sendung befasst. Einige davon sind dieser Frage nachgegangen. Resultat: Die Leute haben keine Freunde, keine wirklichen Vertrauenspersonen, mit denen sie alles besprechen können. Ganz zu schweigen von der Sprachlosigkeit die oftmals zwischen Ehepartnern herrscht. Durch die all nächtliche Präsenz unserer Sendung konnten wir ein Vertrauensverhältnis zu den Leuten aufbauen. Sie wussten, dass alle ernst genommen wurden, dass niemand vorgeführt wurde und dass jeder eine ordentlich Nachbetreuung durch unsere Psychologen bekam. Vielleicht haben sie auch bei der Sendung angerufen, weil sie mich während des Gespräches sehen konnten und trotzdem anonym blieben. Bei der Telefonseelsorge weiß man ja nicht, mit wem man spricht. Und vor dem Schritt direkt zu einem Psychologen oder Psychiater zu gehen, haben viele Leute schlichtweg Angst.
Waren die Fragenschwerpunkte durchweg immer ähnlich, oder haben sich die Probleme in den Jahren verändert?
Wir haben festgestellt, dass sich die Themen in den letzten 10 - 12 Jahren verändert haben. In den ersten Jahren haben wir sehr viel über Sex geredet. Heute findet das Thema Sex eher im Internet statt. Jeder hat alles gesehen, da trat ein Sättigungseffekt ein. Heute sind menschliche Themen gefragt: Liebe, Tod, Unglück, Eifersucht. Dinge, die jeder so erlebt.
Sind die Fragen und Probleme auch politischer geworden?
Das auch. Es rufen seit etwa 10 Jahren viele junge Leute mit Migrationshintergrund an. In erster Linie Mädels, die zwischen den Kulturen hängen und nicht mehr in den Traditionen ihrer Eltern leben wollen, sondern mehr nach unserem Vorbild. Erschütternd finde ich auch, wenn junge, muslimische Schwule anrufen, die nicht nur Angst vor Diskriminierung haben, sondern um Leib und Leben fürchten. Die müssen sich oftmals radikal von ihren Familien trennen, sich anonymisieren und ein neues Leben anfangen; das finde ich erschütternd. Es ist ein großes Versäumnis der Schwulenbewegung, dass dieses Problem in letzten Jahrzehnten so gut wie gar nicht thematisiert wurde. Man hatte wohl Angst, in die ausländerfeindliche Ecke gestellt zu werden, was natürlich völliger Blödsinn ist. Auch die Frauenbewegung hat viel zu lange darüber geschwiegen, unter welchen Bedingungen oftmals muslimische Frauen leben müssen. Die Rolle der Frau im politischen Islam hat Alice Schwarzer jetzt endlich vehement angesprochen. Aber es schweigen immer noch viel zu viele. Wir waren in den 90er Jahren soweit, dass man als Mann entspannt mit einem Mann Hand in Hand am Samstagabend über die Kölner Ringe gehen konnte. Heute würde ich mich das nicht mehr trauen. Das sind bedenkliche Entwicklungen.
Erkennen die Leute dich auf der Straße, sprechen sie dich da an?
Das ist ein Phänomen: die Leute fragen nach einem Foto oder einem Autogramm, aber in all den vielen Jahren bin ich nur zwei Mal auf ein Problem angesprochen worden. Ich glaube, sie unterscheiden stark zwischen mir als Privatmann und dem Night-Talker, der seinen Job macht.
Du hattest in deiner Sendung zu den Anrufern nur den akustischen Kontakt. Kannst du an der Stimme erkennen, wie jemand ist?
Ja, aber ich kann es im Detail nicht erklären. Ich habe so ein Sensorium entwickelt und verfeinert, das ich innerhalb von Sekunden weiß, ob es kompliziert, locker oder cool wird. Ich höre das an der Stimme, wie jemand zum Beispiel „Hallo“ sagt, oder wie er atmet oder ob er Pausen beim Sprechen macht und so weiter.
Hättest du früher bei eigenem Problem in so einer Sendung angerufen?
So etwas gab es ja früher nicht. Ich glaube, mit Sicherheit hätte ich zwar heimlich in der Nacht zugehört, aber ob ich mich getraut hätte, auch da anzurufen? Außerdem hatte ich ja gute Eltern.
Wäre es beim Outing hilfreich gewesen?
Das war bei mir ganz entspannt. Als es anfing „aufzubrechen“, hatte ich eine sehr gute Freundin, die schon etwas weiter war, nämlich Hella von Sinnen. Wir waren auf einem sehr liberalen Gymnasium; da war es irgendwie chic, anders zu sein. Es war also nie ein Problem, sondern zum Glück relativ locker. Lediglich bei den Eltern war das schwierig. Die kamen ja aus einer ganz anderen Generation, das brauchte schon etliche Gesprächsstunden. Das Problem war damals nur: mir war nicht klar, was ich bin. Ich war nicht an Männern interessiert, sondern in meinen besten Freund verliebt - und war zu der Zeit mit einem Mädel zusammen. Als ich dann meine Identität benennen konnte, hatte ich große Probleme mit der schwulen Szene, weil ich mich als „Bi“ bezeichnete. Da hieß es dann: „Du traust dich nur nicht zu sagen, dass du schwul bist!“
Lebst du heute in einer Beziehung?
Nein, ich bin Single. Ich hatte zwei längere Fernbeziehungen in den Jahren; eine in Frankfurt, die andere in Miami. Bei meinem Job musste man schon großherzige Menschen haben, die dafür Verständnis aufbrachten.
Na, jetzt hast du ja abends frei, wir werden in ein paar Monaten noch mal nachfragen. Was wolltest du als kleiner Junge werden?
Chef vom größten Stahlunternehmen in Gummersbach. Mich beeindruckte der Firmensitz damals. Dieser war das einzige Hochhaus in Gummersbach. Und man hatte mir erzählt, dass der Chef ganz oben sein Büro hatte. Also wollte ich dahin. Als ich älter wurde, wollte ich Theologie studieren. Aber ein halbes Jahr vor Studienbeginn, brach mein Glaube völlig zusammen. Das war dramatisch. Dann wurde ich erstmals Kabelträger beim WDR und habe Blut geleckt.
Wärst du denn gerne noch mal Teenager?
Nein, das war eine extrem anstrengende Zeit. Man weiß nicht, was man wirklich will. Man ist noch auf der Suche. Man kann sich nicht richtig zur Wehr setzen. Aber ich freue mich auch nicht darüber, dass ich alt werde. Ich wär am liebsten immer so um die 40 Jahre alt.
Angst vor dem Alter?
Nicht vor dem Alleinsein, ich bin eh' Einzelgänger. Aber vor Krankheiten, vor dem Sterben und vor Verlusten. Meine Mutter ist 85 Jahre und aus ihrem früheren Umfeld ist keiner mehr da. In ihrem Telefonbuch sind fast alle Namen gestrichen, weil sie verstorben sind. Und das bewusst mitzuerleben, ist schlimm.
Wie und wo schaltest du ab?
In der Natur. Für meine Kontemplation ist das ein wichtiger Schlüssel. Ich bin im Sommer viele Wochen in Lappland. Aber auch in Deutschland gibt es wunderbare Wälder und ländliche Regionen zum Wandern und Abschalten. Zudem beschäftige ich mich seit Jahren mit Zen. Diese fernöstliche Lebensphilosophie ist der ganz große Ruhepol in meinem Leben.
Was ärgert dich?
Illoyalität und Geiz. Ich könnte niemals mit einem Menschen ein enges Verhältnis haben, der geizig ist.
Wenn man an deine Sendung denkt, wohl auch die Intoleranz?
Keine Toleranz der Intoleranz! Denn ich empfinde es als ganz großes Glück in einem Land zu leben, das eine so großartige Verfassung hat, nämlich unser Grundgesetz. Und das gilt es unbedingt zu verteidigen. Mit der Intoleranz ist es aber so eine Sache. Ich will ja nicht der Depp sein, der alles toleriert. Also bin ich in gewisser Weise auch intolerant.
Was beschäftigt dich politisch?
Im Moment macht mir allergrößte Sorge, was in Amerika passiert. Ich habe Angst vor großen Umbrüchen bis hin zu Kriegen. Wenn ich mir die Kabinetts-Liste von Donald Trump ansehe, wird mir ganz mulmig. Milliardäre, Erzkonservative, politisch Unerfahrene und regelrechte Hetzer. In Deutschland macht mir zwar die AFD auch Sorgen, allerdings bin ich fest davon überzeugt, dass unsere Demokratie eine solche Strömung aushalten wird. Dann schaue ich nach Russland. Vor diesem Land habe ich ebenso große Angst, wie vor den USA unter Trump. Und wir erleben gerade, wie das politische System in der Türkei zu einer Diktatur umgewandelt wird. Die Türkei ist Nato-Mitglied. Das ist schon beängstigend. Ganz zu schweigen vom Krieg in Syrien und dem islamistischen Terror.
Zurück zur Sendung DOMIAN. Was passiert mit dem Markenzeichen deiner Sendung: dem Hirsch?
Der Hirsch, der tausende von Stunden vor der Kamera gestanden hat, wurde versteigert, ein Schweizer hat dabei sensationelle 43 000 € geboten, was mich wirklich aus den Schuhen gehauen hat. Und dann noch diese tolle Geste, dass er mir den Hirsch zum Geschenk gemacht hat. Das gespendete Geld kommt der Palliativstation der Uni-Klinik Köln, dem Mildred-Scheel-Haus zu Gute, dem ich sehr verbunden bin.
Wir führen das Interview kurz vor dem Ende deiner Sendung. Was geht in dir vor?
Da eine ist Wehmut, denn die Sendung ist Teil meines Lebens gewesen, welche ich fast ein viertel Jahrhundert gemacht habe. Traurigkeit auch, weil ich mich von meinem tollen Team und den Zuschauern bzw. Zuhörern verabschieden muss. Aber dennoch dominiert das Gefühl, dass die Entscheidung richtig gewesen ist. Alles hat seine Zeit.
Dieses Interview hat SCHWULISSIMO mit Jürgen Domian im Januar 2017 geführt.