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Leben mit HIV
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Leben mit HIV „Das Leben mit HIV ist unter medizinischen Gesichtspunkten kein Stress, der Stress kommt durch Diskriminierung, Ausgrenzung und Stigmatisierung.“

ms - 01.12.2022 - 11:00 Uhr

90.800 – eine Zahl, so abstrakt wie unfassbar. 90.800 Menschen leben aktuell in Deutschland mit HIV, weitere rund 8.600 Personen sind ebenso HIV-positiv, wissen aber nichts von ihrem Status (RKI). Zum heutigen Welt-Aids-Tag wird abermals viel über HIV gesprochen, doch nur selten mit Menschen, die mit HIV tagtäglich leben und bei denen das Thema nicht nur einmal im Jahr präsent ist. Einer dieser Menschen ist der 25-jährige queere Oliver. Vor viereinhalb Jahren erfuhr der Psychologie-Student, dass er HIV-positiv ist. Gesundheitlich machte ihm zum Glück die Erkrankung bis heute keine Probleme, auch die HIV-Therapie verträgt Oliver gut, psychisch hingegen war die Diagnose eine Herausforderung. Inzwischen kann er auch damit gut umgehen und hat sich dieses Jahr dazu entschlossen, bei der Welt-Aids-Tag-Kampagne der Deutschen Aidshilfe mitzumachen.

 

Oliver, warum wolltest du in diesem Jahr bei der Kampagne mitmachen?

Ich möchte meinen Beitrag leisten und neue und vielfältige Narrative über das Leben mit HIV etablieren. HIV-positive Menschen sind super unterschiedlich und lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Das Gleiche gilt für die Art, wie wir mit der Infektion umgehen. Außerdem möchte ich etwas mit anderen HIV-Positiven teilen, was ich selbst erst lernen musste: Ein konstruktiver Umgang mit der Infektion fällt leichter, wenn wir offen darüber sprechen, als wenn wir sie für uns behalten. Das musste ich selbst erst lernen. Wenn außerdem noch ein paar Leute, die sich bisher nicht von HIV betroffen fühlen, dazu angeregt werden, ihr Wissen upzudaten, wäre das natürlich auch fein.

 

Mit welchen Problemen kämpfen Menschen mit HIV aktuell in Deutschland tatsächlich?

Mir fällt es sehr schwer in diesem Zusammenhang für alle Menschen mit HIV zu sprechen, da gerade Diskriminierung bezüglich HIV sich sehr stark noch mit Themen wie Sexismus, Rassismus und Klassismus potenziert. Was darüber hinaus noch eine große Belastung darstellt, ist der Abschluss von Versicherungen wie beispielsweise eine Berufsunfähigkeitsversicherung, Zusatzkrankenversicherung oder die Aufnahme von Krediten, zum Beispiel für eine Existenzgründung. Bei diesen wird eine Gesundheitsprüfung gefordert, bei der HIV-positive Menschen konsequent abgelehnt werden. Was vor dem Hintergrund der guten Therapien mir nicht schlüssig erscheint. Argumentativ kann dann noch auf Korrelationen mit Suchterkrankungen oder Depression verwiesen werden, diese aber meiner Meinung nach Produkt der systematischen Diskriminierung und Stigmatisierung sind.

 

Was sollten die Leute auch noch wissen?

Zum Beispiel die Regel n=n, also “nicht nachweisbar gleich nicht infektiös“. Das heißt im Klartext: HIV ist unter Therapie nicht übertragbar, auch beim Sex nicht. Das ist schon Jahre wissenschaftlich belegt, aber viele scheinen es immer noch nicht zu wissen.

 

Kanntest du diese Regel, als du dich infiziert hast?

Nicht wirklich. Mein Wissensstand zu dem Zeitpunkt war ziemlich gering. Damals war ich 20 Jahre alt und wusste, dass ich als Mann, der Sex mit Männern praktiziert, ein höheres HIV-Risiko habe als andere, und dass es also dazugehört, dass ich mich alle drei Monate teste. Das habe ich auch gemacht. Darüber hinaus habe ich mich aber nicht groß damit auseinandergesetzt, was HIV bedeutet und wie es behandelt wird. Von daher war es ein ziemlicher Schock, als ich nach einer Routine-Testung die Diagnose HIV-positiv bekam.

 

Wie bist du damit umgegangen?

Meine Hausärztin, bei der ich die Diagnose bekommen habe, hat mir gleich die Adresse einer Fachärztin gegeben. Da habe ich ein bisschen panisch angerufen, erzählt, dass mein HIV-Test positiv war, und gefragt, ob ich einen Termin bekommen kann. Die Ärztin war ganz ruhig und meinte: „Wann haben Sie die Diagnose denn bekommen?“ – „Heute.“ – „Ach, heute erst, na dann kommen Sie doch mal in einem Monat vorbei.“ Ein Monat! Das kam mir in diesem Moment ewig lang vor, deshalb habe ich gesagt: „Entschuldigung, für mich bricht hier gerade eine Welt zusammen, ich glaub, so lange kann ich nicht warten.“ Da hat sie gelacht und gesagt: „Na, dann kommen Sie halt morgen.“ Diese Reaktion hat mich sehr irritiert. Allerdings war die Ruhe, die mir die Ärztin durch das Telefonat vermittelt hat, wohltuend. Auch die Beratung war beruhigend. Sehr nüchtern und aufgeklärt, aber auch sehr zugewandt. Ich bin dann relativ bald nach der Diagnose in die HIV-Therapie eingestiegen und war nach ein paar Monaten unter der Nachweisgrenze. Von medizinischer Seite wurde ich also gut aufgefangen, da gab es von Anfang an eine stabile Grundlage.

 

Hat diese stabile Grundlage im privaten Bereich gefehlt?

So klar würde ich das nicht sagen. Ich hatte auf jeden Fall Menschen um mich, die sich um mich gesorgt haben. Leider war diese Sorge so groß, dass einige Ratschläge für einen gesunden Verarbeitungsprozess nicht sehr hilfreich waren. Ich habe mich einer Bezugsperson anvertraut, deren Bilder und Wissenstand von HIV antiquiert  waren. Diese Person riet mir dann, ich solle die Infektion besser für mich behalten und keinem davon erzählen. Das war fürsorglich gemeint und sollte mich vor Zurückweisung schützen. Aus heutiger Sicht war es aber total falsch. Dieses Nicht-darüber-Reden hat mich ziemlich krank gemacht. Dadurch bin ich in eine Internalisierungsschleife reingerutscht, durch die ich jegliches Selbstwertgefühl verloren habe.

 

Wie bist du aus diesem Teufelskreis rausgekommen?

Anfangs habe ich versucht zu verdrängen, indem ich richtig viel gearbeitet, gefeiert und mich betäubt habe. Aber dann kam die Corona-Pandemie. Da brachen plötzlich alle Strukturen weg, die ich mir aufgebaut hatte, um mich am Laufen zu halten. Ich bin in eine schwere Depression gerutscht. Die HIV-Infektion war nicht der einzige Grund dafür, aber sie spielte eine große Rolle. Auf einmal war Sense, es ging gar nichts mehr.

 

Und dann?

Ende 2020 war ich in Gefahr, mir das Leben zu nehmen. Da merkte ich, dass es so nicht weitergehen konnte. Also habe ich mir einen Therapeuten gesucht und nebenbei angefangen, mein Wissen und mein Umfeld zu erweitern. Ich habe Seminare der Deutschen Aidshilfe besucht, bin zu Jungpositiventreffen gefahren und habe Selbsthilfeveranstaltungen besucht. Die Aidshilfe hat auch ein Buddy-Projekt, wo andere HIV-Positive Menschen mit einer neuen Diagnose beraten. So ein Gespräch habe ich auch in Anspruch genommen. Ich kann das allen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, nur empfehlen! Der Austausch mit anderen Positiven hat mir wahnsinnig geholfen, ein entspanntes Verhältnis zu meiner Infektion aufzubauen. Nach und nach habe ich gelernt, dass offen über HIV zu sprechen mir selbst die Macht gibt mitzubestimmen, wie andere mich sehen.

 

Wie funktioniert das ganz praktisch?

Ich kann die Reaktionen der Leute ein Stück weit steuern, wenn ich selbstbewusst über die Infektion rede und Unwissen mit Fakten beantworte. Wenn ich argumentiere, statt verschämt herumzustammeln, bleibt weniger Raum für blöde Reaktionen und vorschnelle Abwertung, dafür entsteht mehr Raum für Erkenntnisse, Anteilnahme und Fragen. Es haben sich auch schon Leute bei mir bedankt, dass ich ihnen die aktuelle Faktenlage zum Thema HIV erklärt habe, weil sie ihnen in Zukunft einen bewussteren Umgang mit anderen Positiven ermöglicht. Das fand ich sehr ermutigend.

"HIV unterscheidet nicht zwischen Sexualität, Geschlecht oder Hautfarbe", so Oliver

Was hast du sonst noch gelernt, wie du dich behaupten kannst?

Ein sehr wichtiger Punkt war für mich die Erkenntnis: Ich sage zwar „Ich bin positiv“, aber eigentlich habe ich einfach nur ein Virus in mir, das meine Persönlichkeit oder mein Leben nicht definiert. Da dieses Virus medikamentös gut behandelbar ist, gibt es keinen Grund, mich deswegen schlecht zu fühlen, selbst wenn andere Leute meinen, mich dafür verurteilen zu müssen. Wir alle konstituieren unsere Realität selbst. Wir sind verantwortlich für unser Wissen, und was wir daraus machen. Wenn andere Leute mich diskriminieren, ist das ein Indikator für ihren beschränkten Horizont, nicht dafür, dass sie mich zu Recht diskriminieren. Das zu verinnerlichen, hat mir sehr geholfen.

 

Auf welche Vorurteile triffst du heute noch am meisten, wenn Menschen mit dir über HIV sprechen?

Dass die Infektion eigentlich nur bei Männern, die Sex mit Männern praktizieren, vorkommt. Es stimmt schon, dass die Prävalenz in Deutschland bei homosexuellen Männern aktuell zwar höher ist als in der heterosexuellen Population, dies unterscheidet sich allerdings von Land zu Land und im globalen Vergleich sind sogar mehr heterosexuelle Menschen betroffen. Das HI-Virus unterscheidet nicht zwischen Kategorien wie Sexualität, Geschlecht oder Hautfarbe.

 

Erlebst du auch nach wie vor direkt Diskriminierung?

Im Alltag beobachte ich weniger direkte Diskriminierung als Vorurteile, die auf Unwissen beruhen. Die finde ich erst mal menschlich und nachvollziehbar, solange sich die Leute nicht hinter ihrem Unwissen verschanzen und sich weigern, Vorurteile zu korrigieren. Beim Daten über Apps wie Grindr läuft es ein bisschen direkter. Da brechen schon öfter mal Leute die Kommunikation ab, wenn man schreibt, dass man HIV-positiv ist. Ich kommuniziere meine Infektion inzwischen bei Sex-Dates nicht mehr im Vorfeld. Ich habe zwar nichts zu verbergen und wenn ich gefragt werde, antworte ich wahrheitsgemäß, aber ein Sex-Date ist für mich kein Anlass, bei dem ich das Gefühl habe, Aufklärung machen zu müssen. Das Risiko einer Übertragung besteht ja durch meine Therapie nicht. Läuft das Dating auf näheres Kennenlernen und eine Vertrauensebene hinaus, komme ich dagegen relativ schnell mit dem HIV-Thema um die Ecke. Gar nicht unbedingt, weil ich das Gefühl habe, dass es in meiner Verantwortung liegt, mich zu offenbaren, eher weil ich vermeiden möchte, dass aus dem Thema im Nachhinein ein Vertrauensmissbrauch konstruiert wird.

 

Wenn du drei Fakten über HIV in die Köpfe der Gesamtgesellschaft einpflanzen könntest, welche wären das?

Erstens: Bei HIV-Positiven, die in Behandlung sind, ist die Infektionsgefahr in der Regel gleich null. Zweitens: Das Leben mit HIV ist unter medizinischen Gesichtspunkten überhaupt kein Stress, der Stress kommt durch Diskriminierung, Ausgrenzung und Stigmatisierung. Und als Drittes sollten wir uns klarmachen, dass HIV eine Zoonose ist. Genau wie Corona oder die Pest ist es ein Virus, das dadurch entstanden ist, dass Menschen in den Lebensraum von Tieren eingedrungen sind und ihn sich angeeignet haben. Wir sollten anfangen, mehr Energie in den Erhalt unserer Umwelt zu investieren, wenn wir nicht wollen, dass sich Infektionen wie diese auch in Zukunft entwickeln und ausbreiten.

 

Wie würdest du dein Leben heute mit HIV beschreiben?

Mein Leben mit HIV ist ein sehr schönes. Ich habe wundervolle Freundschaften und ein gutes Verhältnis zu meiner Familie. Ich darf einem Studium nachgehen, welches mich interessiert, an dem ich stetig wachsen darf und habe auch noch Raum für politisches Engagement und Hobbies wie Cello spielen und Sport. HIV hat dabei mittlerweile nur noch Gastauftritte. Im Rahmen eines Seminars der DAH hat ein Dozent mal gesagt, dass Betroffene oft jegliches Leid ihres Lebens auf dieses Virus attribuieren, was eine differenzierte Auseinandersetzung schwierig macht. Ich persönlich hatte auch vor meiner Infektion sehr starke Probleme mit meinem Selbstwert, das hat die HIV-Infektion natürlich nur noch befeuert, war aber an der Stelle nicht ausschlaggebend. Ich habe erkannt, dass wenn Menschen mich auf Grund meiner Infektion diskriminieren, ist das ein Indikator für ihre Unwissenheit oder ihr beschränktes Weltbild. Dies hat aber nichts mit mir als Person zu tun. Im Rahmen einer Psychotherapie konnte ich das Thema mit dem Selbstbild aufarbeiten und klären. Heute habe ich ein viel besseres und wohlwollenderes Verhältnis zu mir und lass mich von Diskriminierung in Bezug auf meine Diagnose nicht mehr klein machen.

 

Welche Wünsche hättest du an die Politik mit Blick HIV?

Nachdem die staatlichen wie auch nicht-staatlichen Kampagnen der 1980er und 1990er Jahre ihren massiven Beitrag geleistet haben, durch Begriffe wie “Fixer- und Schwulenseuche“ (Spiegel) HIV und AIDS als ein Thema von marginalisierten Gruppen zu adressieren, wünsche ich mir jetzt neue Kampagnen, die diese Entwicklung aufarbeiten und ein differenziertes Bild in der Mitte der Gesellschaft skizzieren. Darüber hinaus muss es eine Regelung geben, sodass Menschen mit HIV ein besserer Zugang zur privaten Altersvorsorge und zur Existenzgründung ermöglicht werden.

Das Interview entstand in Zusammenarbeit mit der Deutschen Aidshilfe.

Zur Kampagne geht es direkt hier.

 

Hier gibt es Hilfe

Die Berichterstattung über Suizid ist ein überaus sensibles Thema. Wir möchten es in KEINSTER Weise glorifizieren oder romantisieren. Viele Menschen die durch Suizid sterben, leiden an einer psychischen Erkrankung. Wenn es dir nicht gut geht oder du daran denkst, dir das Leben zu nehmen, versuche mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen du dich melden kannst. Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Mit Beratung steht dir auch der Coming Out Verein via Messenger oder E-Mail unter www.coming-out-day.de zur Seite. Weiterhin gibt es von der Telefonseelsorge das Angebot eines Hilfe-Chats. Außerdem gibt es die Möglichkeit einer E-Mail-Beratung. Die Anmeldung erfolgt – ebenfalls anonym und kostenlos – auf der Webseite. Informationen findest du unter: www.telefonseelsorge.de

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