Leben, Lieben, Sex im Alter Ein neues Miteinander mit der Generation 50+
Arm aber sexy – was einst für die Regenbogenhauptstadt Berlin zutraf, beschreibt heutzutage ziemlich gut die Lebensrealität schwuler Senioren. In Deutschland lebt laut dem Arbeitsministerium etwa jeder fünfte Rentner in Altersarmut. Das betrifft aktuell rund 800.000 bis zu einer Million homosexueller Senioren.
Die Geldknappheit im Alter hat in vielen Fällen mit den Lebensläufen zu tun, viele von ihnen litten teils Jahrzehnte lang unter dem berüchtigten Gesetzesparagrafen 175, der homosexuellen Sex unter Männern bestrafte und Schwule stigmatisierte – in vielen Fällen war Homosexuellen eine Karriere aufgrund der gesellschaftlichen Homophobie vorenthalten.
Jenseits der Klischees
Doch es ist nicht alles düster und schlimm, denn in puncto Sexualität geht es den Senioren deutlich besser als klischeemäßig vielleicht vermutet. Zwei britische Studien räumten zuletzt mit dem Irrglauben auf, dass ältere Menschen kein aktives Sexualleben oder keine Vielzahl von Sexualpartnern haben können. Für schwule Männer lässt sich sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Im fortgeschrittenen Alter führen viele Homosexuelle ihr bestes Sexleben, gerne auch mit mehreren Partnern und das bis weit in die 70er Jahre hinein. Insgesamt wurden für die Studie mehr als 5.000 homosexuelle Männer befragt. 25 Prozent der schwulen Herren über 70 Jahre, die auch Online-Dating betreiben, haben binnen eines Monats mehrere Sexualpartner. Bei den Online-Muffeln sind es noch 17 Prozent. Zum Vergleich: Nur zwei Prozent der heterosexuellen Menschen über 70 gaben an, mehrere Partner zu haben.
Ausgrenzung in der Community
Ein Problem bleibt dabei trotzdem bestehen – die Ausgrenzung innerhalb der eigenen schwulen Szene. Jugendwahn und Körperkult sind bis heute weit verbreitet und in der LGBTI*-Community mit deutlichem Abstand vor allem bei schwulen Männern ausgeprägt, wie im September eine Studie der britischen Nottingham Trent Universität aufzeigte. Nach wie vor ist der alte, schwule Mann in unserer Community eine Randerscheinung, auf die nicht wenige wahlweise zumindest insgeheim mit Verachtung oder Mitleid hinuntersehen. Auch in der medialen Öffentlichkeit findet die Thematik kaum Zuspruch, nur ab und an wagen sich Kreative wie zum Beispiel Bruce LaBruce mit seinem Film „Geron“ daran – erzählt wird hier die Liebesgeschichte zwischen einem jungen Krankenpfleger und einem Senioren.
Erotik einmal anders
Aber warum wird das Thema Alter und ältere Homosexuelle nach wie vor in der Szene so derart massiv und teils brutal kühl totgeschwiegen? Haben die Jüngeren unter uns einfach nur Angst, weil sie in ihre eigene Zukunft blicken? Wer nicht komplett oberflächlich unterwegs ist, muss sich doch eingestehen, dass Erotik und sexuelle Anziehung mehr beinhalten als straffes, festes Fleisch. Auch eine alte Haut, eine, die etwas zu erzählen hat, kann unheimlich sexy sein, vor allem dann, wenn deren Besitzer auch noch etwas zu sagen hat. Es geht nicht darum, sich alte Menschen mit allem Zwang schön zu reden, nein, es geht darum, zu erkennen, dass von ihnen einen Schönheit ausgeht, die es wert ist, entdeckt zu werden.
Das ist nicht für Jedermann etwas, natürlich, aber deutlich mehr Schwule könnten ein Erleben wagen, wenn sie einmal frei von gesellschaftlichen schwulen Normen an die Sache herangehen würden. Und selbst für jüngere Homosexuelle, die keinen Gefallen an älteren Männern finden, muss die Devise gelten, dass man trotzdem mit Respekt miteinander umgehen kann. Wir sind und bleiben als homosexuelle Männer eine Minderheit in der Gesellschaft, wenn wir weiter damit fortfahren, uns untereinander zu diskriminieren und auszugrenzen, was bleibt dann noch von uns übrig? Wer soll sich für uns einsetzen, wenn wir es nicht einmal untereinander schaffen?
Alt werden - aber wie?
Wir alle werden alt und ja, natürlich bringt das Alter auch Veränderungen mit sich. Das fängt beim Aussehen an, geht weiter über allerlei körperliche Beschwerden bis hin zur manchmal schwindenden Manneskraft zwischen den Lenden. Wir wollen das nicht schönreden, aber vielleicht können wir es mit etwas mehr Humor und Lebensfreude betrachten. Sowohl als Betroffener wie auch als junger Mann. Ältere Menschen sind schon heute die Mehrheit, beinahe die Hälfte aller Deutschen ist 40 Jahre und älter, rund jeder Fünfte sogar über 65 Jahre alt. Weit über die Hälfte aller Homosexuellen über 44 Jahre lebt in einer festen Beziehung, bei Dreiviertel davon dauert die Beziehung bereits mehr als sechs Jahre an.
In keiner anderen Altersgruppe von homosexuellen Männern sind diese Werte so hoch. Über achtzig Prozent sind noch in der schwulen Szene unterwegs, manche davon sporadisch, andere regelmäßig, manche auf der Suche nach Sex, andere nur zum geselligen Beisammensein. Im Vergleich zu den jüngeren Homosexuellen geht es Älteren psychisch deutlich besser, über neunzig Prozent verspüren keine schwerwiegenden Ängste oder Depressionen. Vier von fünf der älteren Herren haben noch regelmäßig Sex, jeder fünfte ältere Mann sogar mit bis zu fünfzig anderen Kerlen im Jahr. Die Anzahl derer, die nicht mit ihrer Homosexualität klarkommen, ist bei den Älteren am geringsten (DAH-Studie).
Kurzum, so schlecht steht es nicht um unsere älteren Mitmenschen. Und auch positive, ältere Role-Models lassen sich finden wie zum Beispiel der amerikanische Schriftsteller Armistead Maupin, berühmt geworden durch seinen Stadtgeschichten-Zyklus; er ist mit einem 27 Jahre jüngeren Mann verheiratet. Zwischen Drehbuchautor Dustin Lance Black (50) und Olympionike Tom Daley (30) beträgt der Altersunterschied immerhin auch noch zwanzig Jahre. Oder wie wäre es mit dem lebensfrohen britischen Schauspieler Ian McKellen, der erst in diesem Jahr seinen 85. Geburtstag gefeiert hat und, wenn möglich, noch einmal als Gandalf in einem neuen Herr-der-Ringe Film vor die Kamera treten will.
Lustvoll jenseits der Selbstinszenierung
Vielleicht müssen wir einfach einmal damit anfangen, unseren eigenen Horizont zu erweitern. Immer wieder wird gerne gesagt, man könne von den Älteren etwas lernen – das stimmt sicherlich auch, aber das alleine ist es nicht. Man kann auch richtig viel Spaß mit ihnen haben. Auch abseits des finanzstarken Sugardaddys, der einen jüngeren Homosexuellen finanziell aushält. Die Mehrheit der älteren Schwulen muss sich nicht mehr beweisen, ist zufrieden mit dem eigenen Leben, hat erkannt, wo die wahren Prioritäten im Leben liegen und tut sich leichter damit, Unwichtiges von Wichtigem zu unterscheiden. Wir sollten daher eigentlich viel offener auf ältere Männer zugehen, sie mehr einbeziehen und intensiver kennenlernen – immer noch die beste Möglichkeit, um das schiefe, klischeehafte Bild vom älteren Lüstling zu überdenken. Oder bleibt alles beim Alten? Im wahrsten Wortsinn?
Wir können schreiben, erklären, belegen, diskutieren, doch am Ende neigen viele von uns doch wieder dazu, ältere Homosexuelle einfach auszugrenzen – ob nun für ein Abenteuer im Bett oder den Smalltalk an der Bar. Auf der anderen Seite gibt es wohl auch eine Anzahl schwuler, älterer Männer, die meinen, sie müssen sich auf eine bestimmte Art anbiedern, sie müssen mit Gratis-Drinks und Geld winken, um überhaupt noch einen Fang zu machen. Das aber minimiert den Respekt auf beiden Seiten, selbst wenn es ab und an noch funktionieren mag. Doch abgesehen von einem sexuellen Spiel als Abenteuer, findet es kaum ein junger Mann attraktiv, als käuflich abgestempelt zu werden, noch erfreut sich ein älterer Mann daran, als „beschädigte Ware“ dazustehen, mit der man nur noch durch Darreichung einer finanziellen Zahlung intim werden kann. Beides ist falsch, beides erniedrigt uns – alt wie jung. Und beides muss nicht sein.
Alt und Jung
Wenn mehr ältere Männer lernen, mit Würde, Selbstbewusstsein (das Aphrodisiakum Nummer Eins!) und erhobenem Haupt aufzutreten, würden sie vielleicht auch deutlich interessanter für jüngere Homosexuelle werden – wenn diese wiederum nicht ihre kurzweilige Jugend als einzig hohes Gut in die Waagschale werfen würden. Wenn junge Männer nicht mehr zu bieten haben, als frisches Fleisch, mag das kurzzeitig zwar sicherlich amüsant sein, aber auf Dauer eher ermüden und langweilen. Wer sich auf den knackigen Rundungen der Jugend ausruht, muss sich nicht wundern, wenn er von älteren Männern genau darauf reduziert wird.
Am Ende sind es beide Seiten, die vielleicht ihre Einstellungen zum Thema Alter ein Stück weit verändern und verbessern müssen. Uns allen sei dabei die Frage gestellt: Warum hetzen so viele von uns diesem jugendlichen Körperkult weiter nach und können oder wollen sich nicht vorstellen, auch mit Männern intim zu werden, die Falten, graue Haare und ein Bäuchlein haben? Die meisten jener Herren sind nicht nur sehr erfahren, sie sind auch besonders darauf bedacht, ihrem Gegenüber ein besonders schönes Erlebnis zu schenken – eines der Grundpfeiler für wirklich guten Sex.
Schranken im Kopf
Es geht nicht darum, jüngere Schwule zwingend zu Intimitäten mit älteren Männern zu überzeugen, wenn sie das nicht wollen. Vielmehr geht es darum, zu hinterfragen, warum wir diese Schranken im Kopf haben und sie unreflektiert weiter unser Leben mitbestimmen lassen. In jungen Jahren mit Anfang 20 hatte ich ein sexuelles Erlebnis mit einem älteren Männerpaar, beide Mitte 60. Uns trennten über vierzig Jahre und doch fanden wir im Bett zueinander, sehr direkt, sehr intim, sehr ehrlich. Jeder konnte dem anderen etwas geben, jeder zog im positiven Sinn seinen Nutzen daraus. Mein Beuteschema waren ältere Männer damals nicht, ich ließ mich trotzdem einfach unvoreingenommen darauf ein. Vor und nach dem Sex redeten wir stundenlang über Gott und die Welt und um drei Uhr morgens kochten sie mir noch eine wunderbare Pasta, bevor wir uns verabschiedeten. Es war ein Erlebnis, das so ganz anders war als alle anderen zuvor – und danach. Und im Gegensatz zu vielen anderen Männerbekanntschaften ist mir diese auch zwanzig Jahre später noch immer im Gedächtnis.
Kurzum, es ist es definitiv wert, auch alte Haut zu küssen. Mit mehr Aufmerksamkeit und Respekt in beide Richtungen kann daraus ein wunderbares Erlebnis werden oder sogar eine Verbindung für viele Jahre entstehen. Wir müssen nur etwas mutiger werden, uns frei machen von alten Ansichten und dem Jugendwahn und mehr den Menschen in den Mittelpunkt stellen – denn das macht uns über jede Falte hinaus ein Leben lang verdammt sexy. Und wollen wir das nicht alle? Ab und an begehrt werden? Und selbst wenn viele von uns heute noch jung sind, so werden auch jene sich im Alter wünschen, noch geküsst zu werden. Nicht aus Mitleid. Nicht für Geld. Sondern, weil sie es verdient haben! Wir Jüngeren und „Mittelalten“ können heute diesen Prozess zur Veränderung anstoßen. Wir sollten sofort damit beginnen.