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Die Zukunft des Mannes

Die Zukunft des Mannes Wie blicken wir künftig auf das Thema Männlichkeit?

ms - 07.11.2025 - 16:00 Uhr
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Wie muss er sein, der moderne Mann im 21. Jahrhundert? Wie darf er sein – und wie vielleicht nicht mehr? Sind Schwule mitunter nicht „männlich genug“ oder zu feminin? Wie sehr unterscheiden sich heterosexuelle von schwulen oder queeren Männern? Was können wir voneinander lernen und wie sieht eigentlich die Zukunft des Mannes aus? SCHWULISSIMO fragte nach bei Männerexperte Markus Theunert.

Männlichkeit ist im Wandel. Wie würden Sie heute Männlichkeit definieren? 

Männlichkeit ist immer im Wandel. Das ist kein Phänomen der Gegenwart. Es ist jetzt auch schon über 40 Jahre her, seit Herbert Grönemeyer die große „Wann ist ein Mann ein Mann?“-Frage popularisiert hat. Beantwortet ist sie immer noch nicht. Sie kann auch nie beantwortet werden. 

Weshalb nicht?

Weil Mannsein kein Zustand, sondern ein Prozess ist. Grundlegend ist die Einsicht: Es gibt keinen Bauplan des Männlichen, der sich von Natur aus entfaltet und über alle Epochen und Kulturen hinweg stabil wäre. Mannsein ist etwas sehr viel Kreativeres: Ich mache mich selbst zum Mann, indem ich mich – wenn auch meist unbewusst – auf die jeweils aktuell geltenden gesellschaftlichen Männlichkeitsanforderungen beziehe. Die meisten Männer wollen ihnen bestmöglich genügen. Beides verändert sich: Die Anforderungen an einen „richtigen Mann“ und die Bereitschaft, sich ihnen fraglos zu unterwerfen. 

Wenn wir auf das Männerbild vergangener Tage blicken, war ein Mann zumeist ein „echter Kerl“. Gerade schwule und bisexuelle Männer, die mitunter emotional waren, wurden da gerne als verweichlicht beschimpft. Wie sieht das heute aus? War der schwule Mann dem Zeitgeist voraus und heute dürfen alle Männer mehr Emotionalität zeigen? 

Ja und Nein. Männer, die (auch) Männer lieben, sind natürlich in einem Punkt sowieso weiter. Heteromänner verinnerlichen im Lauf ihrer Sozialisation den Irrglauben, den Mittelpunkt der Welt darzustellen. Die unhinterfragte Norm zu sein. Dieses Privileg haben schwule Männer zumindest bezüglich sexueller Orientierung nicht. Sie müssen einen Umgang damit finden, dass sie in diesem entscheidenden Punkt „anders“ sind. Und der wird im Patriarchat massiv symbolisch aufgeladen. Schwule begehren ja nicht nur das „falsche“ Geschlecht. Sie sind eine systemische Provokation. Denn die patriarchale Geschlechterordnung hält nur so lange, wie Frauen und Männer als einander völlig wesensfremde Mängelwesen dargestellt werden können, die erst über Hetero-Partnerschaft und Ehe zu einem vollständigen Ganzen werden. Schwule Liebe entlarvt diesen Unfug als patriarchale Machttechnik. Sie macht sichtbar: Das heteroromantische Liebesideal dient primär dazu, männliche Verfügungsmacht über Körper, Sexualität und Ressourcen von Frauen zu institutionalisieren. Deshalb verachtet das Patriarchat Homosexualität. 

Und deshalb muss der schwule Mann als „unmännlich“ abgewertet werden?

Genau. Wobei schwule Männer ja ganz unterschiedlich damit umgehen. Die bewusste Inszenierung und subversive Aneignung des „Unmännlichen“ ist eine Möglichkeit – das Betonen von Härte und Stärke, Muskeln und Männlichkeit eine Andere. Beide sind Teil von schwuler (Sub-)Kultur. 

Es gibt ja bis heute Bastionen, da wird das Bild des „starken Kerls“ sehr hochgehalten, beispielsweise im Fußball. Von vielen Fans wird dieses Männlichkeitsbild bis heute gefeiert. Warum?

Angst. Unsicherheit. Männlichkeit ist ja ein Phantom. Ein Mann ist niemals sicher, Manns genug zu sein. Ein falsches Wort, ein Moment der Verletzlichkeit – und schon ist die Fassade der Härte entlarvt. Deshalb konzentrieren sich die Männer, denen die Orientierung an gesellschaftlichen Männlichkeitsanforderungen ganz wichtig ist, auf eins: all das zu unterlassen, was als weiblich oder schwul gelesen werden könnte. Wobei ja interessanterweise gerade das Ritual im Stadion mehr körperliche Nähe unter Heteromännern zulässt als im Alltag. Aber damit sich dieses „andere Mannsein“ normalisiert, braucht es noch viel mehr Angebote, Rollenmodelle und Leitideen, wie fair Mannsein gehen könnte. 

Wie sieht die Zukunft des Mannes aus? 

Es ist eine entwicklungsoffene Situation. Was wir fachlich mit Bestimmtheit sagen können: Es gibt unter jungen Männern eine Retraditionalisierung. Etwa ein Drittel von ihnen ist empfänglich für männlichkeitsideologische Ressentiments. Das Gerede von der männlichen Überlegenheit, das Phantasma, dass Frauen auf Typen stehen, die ihnen den Tarif durchgeben, solche Dinge. Aber: Es gibt kein Pendel, das zurückschlägt. Denn auf der Gegenseite steht eine wachsende Zahl von Männern, die neue Wege des Mannseins suchen. Die nicht länger bereit sind, gewaltbegünstigende und gesundheitsgefährdende Männlichkeiten zu reproduzieren. Am härtesten trifft es die Gruppe in der Mitte. Sie konnte viele Jahre so tun als ginge sie Geschlechterfragen nichts an. Das funktioniert nicht mehr. Man(n) muss sich zunehmend positionieren: als Teil der geschlechterpolitisch progressiven Community, die Vielfalt feiert und Egalität lebt – oder als Teil der reaktionären Community, welche sich zurück sehnt in die Zeiten, als Ungleichheit, Diskriminierung und Marginalisierung von Minderheiten noch normal war. Es ist übrigens nicht so, dass schwule Männer automatisch zur ersten Gruppe gehören.

Wie meinen Sie das?

Auch schwule Männer sind patriarchal geprägte Männer. Auch sie profitieren von der strukturellen Privilegierung des Männlichen. Auch sie haben Botschaften verinnerlicht, die Frauen zu Menschen zweiter Klasse machen. Schwulsein allein bewahrt nicht davor, sich mit eigenen patriarchalen Prägungen auseinandersetzen zu müssen. Und da nehme ich – gerade auch bei älteren Schwulen – durchaus Widerstände wahr. Auch unter ihnen gibt es viele, die sich provoziert fühlen durch selbstbewusste Frauen, sich abschätzig über Wokeness und Gender äußern, AfD wählen. 

Ist es nicht eine Form der Diskriminierung, zu erwarten, dass schwule Männer die besseren Menschen sind?

Doch, das wäre es. Aber das sage ich nicht. Ich sage nur: Selber einer Minderheit anzugehören, schützt nicht automatisch vor der Abwertung von anderen Minderheiten. Alle Männer, die sich als Männer erleben und verhalten, müssen sich mit den problematischen Seiten männlicher Sozialisation auseinandersetzen. Ich meine zum Beispiel die verinnerlichte Erwartung, als Mann Anspruch zu haben auf Raum, Zeit oder Zuwendung. Ich persönlich würde mir auch viel mehr Austausch und Vernetzung zwischen schwulen Männern und progressiven Hetero-Männern wünschen. Mehr Solidarität. Aber klar, das ist nicht so einfach. Zumal auch in progressiven Männermilieus verinnerlichte Homophobie noch kaum bearbeitet ist. 

Es scheint, dass die junge Generation Z anders mit dem Thema Männlichkeit umgeht und sich von alten Männlichkeitsstrukturen befreit hat. 22 Prozent definieren sich inzwischen als LGBTIQ+. Wie blicken Sie auf diese Entwicklung?

Es wachsen neue Männergenerationen nach, die den engen Korridor „erlaubter Männlichkeiten“ mit großer Selbstverständlichkeit und Lust immer mehr ausdehnen – bis zur Auflösung der Geschlechtergrenzen. Das ist toll. Ich nehme da auch ganz viel Stärkung innerhalb der Communitys wahr, ein Zusammenrücken auch angesichts all der symbolischen und physischen Gewalt gegenüber queeren Menschen. 

Können progressive Hetero-Männer davon lernen?

Das wäre schön, ist aber schwierig. Queeres „Anderssein“ hilft halt in der Abgrenzung und Selbstermächtigung. Wenn man selber zur Norm gehört, ist es viel schwieriger, sich gegenüber den „Normalen“ abzugrenzen. Aber ja, ich würde mir noch viel mehr Community-Gefühl und Solidarität unter progressiven hetero cis Männern wünschen. Sich dem Patriarchat zu verweigern ist ja auch eine Form von Queerness. 

Der Mann soll Gefühle zeigen, mitfühlend sein. Wie kommt es, dass wir andererseits in der Gesellschaft noch immer solche Alpha-Tiere wie Donald Trump oder auch Wladimir Putin haben, die viel Zuspruch erleben?

Je größer das Chaos, die Angst und die Unsicherheit, umso mehr sehnen sich Menschen nach dem Vertrauten. Und das ist nach 10.000 Jahren Patriarchat nun mal die Herrschaft der vermeintlich „starken Männer“. Das sind ja im Kern ganz fragile Persönlichkeiten. Aber sie haben durchschaut, dass das Säen von Chaos, Angst und Verunsicherung eine superpotente Machttechnik ist. Wir erleben grad live, wie die laufend verfeinert und verästelter wird. 

Aus den USA kommt gerade der Trend „Men’s Work“ nach Deutschland – hier treffen sich Männer in Gesprächsgruppen, spüren ihren Energiequellen nach und versuchen, ein neues maskulines Paradigma aufzubauen. Wie blicken Sie darauf?

Mit Unbehagen. Männerarbeit an sich finde ich natürlich super wichtig. Aber: Männerarbeit innerhalb patriarchaler Ungleichheitsverhältnisse wird diese unweigerlich reproduzieren, wenn sie sie nicht bewusst bearbeitet wird. Genau das passiert aber, wenn die Suche nach einer vermeintlich „ursprünglichen“, „archaischen“, „eigentlichen“ Männlichkeit im Vordergrund steht. Dann geht es bloß darum, die eigene Verunsicherung durch eine alte Gewissheit zu ersetzen. Ich möchte klar sagen: Männerarbeit, die „Männlichkeit“ stärkt, ohne ihre patriarchalen Prägungen zu hinterfragen, ist ein reaktionäres Unterfangen. 

Viele schwule Männer definieren ihre Männlichkeit nicht nur, aber auch über ihre Libido. Wie wird sich dies in der Zukunft Ihrer Meinung nach entwickeln? Bleibt der Penis weiter im Zentrum unseres Männlichkeitsbildes? Oder können beziehungsweise sollten wir uns hier vielleicht weiterentwickeln? 

Ist das Neue nicht bereits da? In die sexpositiven Räume, in die ich Einblick habe, nehme ich schon eine ganz selbstverständliche Abkehr von diesen ganzen Pornoscripts mit ihrer fetischhaften Phalluszentrierung wahr. Die Idee, Sex verlange nach einer Erektion, verhindert ja ganz viel an Begegnung, Berührung, Vielfalt, Abwechslung, Entfaltung. Mir scheint, dass sich männliche Sexualität viel mehr und umfassender verkörperlichen muss. Zum Glück ist das Alter diesbezüglich ein unerbittlicher, aber weiser Lehrer.

Eine US-Bestsellerautorin hat unlängst zum Thema Monogamie erklärt, dass Männer mehr oder minder dazu nicht gemacht sind. Männer werden von Sexualität geprägt, wer Sex auslebt, ist ein toller Kerl, während Frauen im Klischee immer noch eher „Schlampen“ sind. Daraus entwickele sich ein Leben lang ein zumeist sehr offenes Verhältnis zum Sex, das Zweisamkeit auf Dauer oft ausschließt. Ihre Meinung?

Diese Analyse ist aus meiner Sicht nicht ganz falsch, aber sehr stereotyp. Anthropologische Studien belegen überzeugend: Weder Männer noch Frauen sind für die Monogamie gemacht. Menschheitsgeschichtlich ist die Idee sexueller Exklusivität nur in einer sehr kurzen Periode leitend. Das gilt erst recht für die Idee der romantischen Liebe. Beides ist untrennbar mit der Entwicklung der patriarchalen Geschlechter- und Gesellschaftsordnung verbunden. 

Wenn zwei schwule Männer unter sich sind, sind offene Beziehungen oftmals selbstverständlicher. Je nach Studie leben bis zu 42 Prozent der schwulen Männer in offenen Beziehungen. 

Ich finde das eigentlich immer noch erstaunlich wenig. Oder umgekehrt gesagt: Ich finde es spannend, wie viele schwule Männer sich an heteroromantischen Idealen patriarchaler Prägung orientieren.

Blicken Sie ähnlich auf das Thema Ehe? Es ist doch zweifellos ein Fortschritt, dass heute auch Schwule heiraten können. 

Zweifellos. Und doch ist es interessant, dass das Bedürfnis danach so groß ist. Die Ehe ist ja doch eine sehr junge und sehr patriarchale Erfindung, die vor allem dazu dient, unbezahlte Care-Arbeit von Frauen nutzbar zu machen und ihre Sexualität zu kontrollieren. Es ist ja kein Zufall, dass die patriarchalste aller Institutionen – die katholische Kirche – das verkrampfteste Verhältnis zur Sexualität hat. Und genauso wenig ist es Zufall, dass sie die Unnatürlichkeit ihres eigenen Verständnisses von Sexualität auf homosexuelle und trans Menschen projiziert. 

In der queeren Community wird die Geschlechterfrage zur rein persönlichen Entscheidung und ist Ausdruck des eigenen Empfindens. Eine Entwicklung, die Ihrer Meinung nach weiter voranschreiten wird? 

Ich finde das eine schwierige Formulierung. Was soll das schon sein: die Geschlechterfrage? Die Frage, weshalb Frauen immer noch in jedem Land der Erde massiv mehr unbezahlte Arbeit leisten als Männer? Die Frage, weshalb Männer auf allen Kontinenten so viel Energie darin investieren, sich von ihrem Innersten abzuwenden? Die Frage, weshalb Menschen bis heute ihr Begehren und ihre Geschlechtsidentität vor jemand anderem als sich selbst rechtfertigen müssen? Es gibt so viele wichtige Geschlechterfragen! Aber Sie meinen wahrscheinlich die Frage, wie ich zum Recht stehe, selbst über die eigene Geschlechtsidentität bestimmen zu dürfen. Natürlich begrüße ich das. Hoffentlich schreitet diese Entwicklung weiter voran! Für mich ist – gerade angesichts der globalen Gewalt und Bedrohung von queeren Menschen – unverständlich, dass das überhaupt eine Frage ist, ob die schwule Community hier solidarisch ist. Da wird schließlich die Frage verhandelt, ob das Bestand hat, was ich als Kernüberzeugung der Schwulenbewegung verstehe: Alle sollen leben, lieben und begehren dürfen, wen und wie sie wollen – sofern es niemandem schadet. 

Ist unser Männlichkeitsbild des „harten Kerls“ denn im Grundsatz per se immer schlecht oder können Sie dem auch etwas Positives abgewinnen? Oder überspitzt gefragt: Ist toxische Männlichkeit immer toxisch? 

Ja, toxische Männlichkeit ist immer toxisch. Aber deswegen sind nicht alle Männer toxisch. Es ist die Umgebung, die toxisch ist. Diese Unterscheidung ist ganz wichtig: Die Männlichkeitsnormen richten Schaden an – auch in uns Männern selbst. Die kulturellen Anforderungen. Diese ganzen Imperative, die uns in enge Korsette zwängen. Uns vorschreiben, was „männlich“ und damit ok ist – und was „unmännlich“ und deshalb auf jeden Fall zu unterlassen ist. Dahinter steckt die essentialistische Idee, der Geschlechtskörper definiere Persönlichkeit, Neigungen, Bedürfnisse, Charakter. Das ist wissenschaftlich grober Unfug. Es gibt keine einzige psychologische Eigenschaft, die Männer und Frauen nicht teilen. Kein einziges Gefühl. Kein einziges Talent. All diese Unterschiede und Engführungen sind gewollt. Sie nützen nicht den Menschen, sondern den Mächtigen. Auch wenn es abgedroschen klingt: dem Patriarchat. 

Viele schwule Männer zelebrieren ein besonderes Männerbild, lieben stark behaarte Männer mit Muskeln oder auch Bauch, lieben sogenannte Bären oder Daddys – in der Community gibt es große Befürworter-Gruppen. Hier wird lustvoll einem sehr bestimmten Männlichkeitsbild gehuldigt. Darf das sein? Wie blicken Sie auf solche Gruppen? 

Natürlich darf das sein. Solange niemand zu Schaden kommt, ist das doch wunderbar. Es geht ja genau um diese Freiheit, so zu lieben und so Mann zu sein, wie es eben passt. Aber das soll auch die Freiheit umfassen, völlig „unmännlich“ und trotzdem ok zu sein. 

In der schwulen Community wird zudem gerne in Kategorien eingeteilt: Es gibt den Twink, den Twunk, den Bär, den Otter, den Daddy – das alles in diversen weiteren Unterkategorien. Tun wir uns damit als Männer einen Gefallen oder können solche Zuschreibungen mitunter auch problematisch werden? 

Zuschreibungen sind immer dann problematisch, wenn sie etwas festschreiben wollen, das fließend ist. Aber ich sehe mich nicht als Instanz, die bewertet, wo das Problematische beginnt. Ich kann höchstens ganz persönlich antworten: Als Begehrender finde ich es erstrebenswert, meine erotischen Codes möglichst weit zu halten. Denn das heißt, dass ich gut in Verbindung mit mir bin. Je mehr ich die Verbindung verliere, umso enger wird die Lust. 

Vielerorts gilt Testosteron bis heute als der „pure männliche Powerstoff“, das Sexualhormon schlechthin. Manche Männer tun alles, um ihr Testosteron zu steigern. Wie blicken Sie auf diese Jagd nach Testosteron? 

Mit ungutem Gefühl. Da sind so viele Zuschreibungen und Engführungen drin: Dass ein „echter Mann“ sexuell sein muss. Immer Lust haben und einen Ständer haben muss. Jung bleiben muss. Aktiv. Kräftig. Eroberungsfreudig. Es ist Selbstbetrug zu glauben, damit einer imaginierten Natur des Mannes näher zu kommen. Das ist bloß der Blick in den Spiegel patriarchaler Männlichkeitsanforderungen. Und die hat nun mal erwiesenermaßen eine desaströse Schadensbilanz. Ob schwul oder hetero: Wer sein Leben an diesen Normen ausrichtet, stirbt früher, einsamer und bitterer. Ich kann jedenfalls beim besten Willen niemandem wünschen, seinen Selbstwert am Hormonstatus festzumachen. 

Gerade in der schwulen Community herrscht auch bis heute stellenweise ein verbissener Jugendwahn. Gleichzeitig wird versucht, alles wegzuschieben, was vermeintlich nicht männlich und fit ist, von der Glatze bis zum Bäuchlein. Wie könnten wir hier in Zukunft vielleicht umdenken oder gegenlenken? 

Auch unter Heteros nehmen Schönheitsoperationen zu. Seit zwei drei Jahren berichten plastische Chirurgen beispielsweise von einem Run auf Penisverdickungen auch bei Männern, die Frauen begehren. Das ist halt so im patriarchalen Spätkapitalismus: Wir machen uns alle zu Produkten, deren Verpackung unseren Marktwert steigern soll. Es ist schwierig, da nicht mitzumachen. Das geht nur mit einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den Normen, die da wirken. Die müssen wir durchschauen, damit wir uns ihnen verweigern können. Da kommt man mit Appellen nirgends hin. Es braucht die Liebe, die von innen wächst. Und die entsteht über den liebevollen Selbstbezug. Am Ende ist es einfach: Wir müssen unsere Fähigkeit zum Empfinden und Fühlen üben und ehren. Radikale Selbstakzeptanz und Selbstfürsorge. Das ist der einzige Weg, aus der Spirale von Genügensangst und Konsumgier herauszukommen. 

Herr Theunert, vielen Dank für das Gespräch.

 

Zur Person: Markus Theunert 

Markus Theunert (52) ist Leiter von männer.ch, dem Dachverband progressiver Schweizer Männer- und Väterorganisationen. Er studierte Psychologie und Soziologie und war der erste staatliche Männerbeauftragte im deutschen Sprachraum. Er wird heute international als Experte geschätzt. 2020 verfasste er im Auftrag des deutschen Familien- und Jugendministeriums (BMFSFJ) das Dossier „Gleichstellungspolitik für Männer und Jungen in Deutschland“. In seiner Arbeit heute widmet er sich vor allem der Frage, wie Männer zur Gestaltung gerechter Geschlechterverhältnisse beitragen können. Zuletzt ist von ihm das Sachbuch „Jungs, wir schaffen das. Ein Kompass für Männer von heute“ erschienen. 

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