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Eine Mordserie in der Gay-Community

Eine Mordserie in der Gay-Community Entschädigungszahlungen sollen britische Familien der Opfer besänftigen

ms - 08.09.2022 - 16:00 Uhr
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Noch heute liegt ein Schatten über der LGBTI*-Community in Großbritannien – sobald der Name Stephen Port fällt, verdunkeln sich oftmals die Gesichter. Der Serienmörder ging als “Grindr-Killer" in die britische Kriminalgeschichte ein und hat dabei mindestens vier junge schwule Männer in einem Zeitraum von eineinhalb Jahren seit 2014 im Großraum London ermordet. Gerade dieses “mindestens“ im vorangegangenen Satz ist eines jener großen Fragezeichen, die bis heute ohne Antwort im Raum stehen, denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass Port viel mehr junge Schwule bis zu seiner eher zufälligen Verhaftung ermordet hat. Nachweisen konnte man ihm “nur“ vier Morde, vor allem deswegen, weil die britischen Ermittler strukturell homophob und auf beiden Augen blind gewesen sein sollen.

Dieser Vorwurf stammt nicht aus der britischen Boulevardpresse, sondern ist das Ergebnis von mehreren behördlichen Untersuchungen zu dem Fall. Das Unabhängige Büro für polizeiliches Verhalten (IOPC) erklärte, die Ermittlungen hätten "unübersehbare Fehler" aufgewiesen. Port fand seine Opfer zumeist über mehrere Dating-Apps wie Romeo oder Grindr, verabredete sich mit den jungen Männern, betäubte sie und ermordete sie schließlich zumeist mit einer Überdosis GHB (Liquid Ecstasy). Die Zahl der Männer, die in dem betreffenden Zeitraum unter sehr ähnlichen Umständen in London tot aufgefunden worden waren und deren ursächlichen Hintergründe bis heute ungeklärt sind, beziffert sich auf 58 Fälle – all diese Todesfälle waren zuvor von den britischen Beamten als “unverdächtig“ eingestuft worden. In vielen Fällen ermittelten die zuständigen Polizisten zumeist erst gar nicht – wieder ein Homosexueller, der an einer Überdosis einer “Sexdroge“ draufgegangen war, was gab es da schon zu ermitteln?

Die Metropolitan Police offenbarte rückblickend ein wahres Potpourri an Unfähigkeit. Port selbst wurde als “Zeuge“ verhört und wieder freigelassen, andere Zeugen wurden erst gar nicht gehört, potenzielle Opfer, die Angriffe von Port überlebt hatten, nicht ernstgenommen, Beweise an den Tatorten – allesamt in der Nähe von Ports Wohnung – nicht untersucht, Fingerabdrücke nicht abgeglichen, Überwachungs-Videobänder mit Port darauf nicht untersucht und den Aussagen von Familien nicht geglaubt, beispielsweise, wenn diese aussagten, dass ihr Sohn noch nie in seinem Leben Drogen genommen habe. Alle Aussagen, Beweise und Hinweise landeten größtenteils ungeprüft in der Ablage. Auch die Bitten mehrerer Zeugen, die darum flehten, Port genauer unter die Lupe zu nehmen, blieben ungehört. Gefasst werden konnte Port nur, weil betroffene Familien eigenständig Ermittlungen durchführten und diese schlussendlich der Polizei präsentierten.

Nach seiner Verhaftung meldeten sich weitere Opfer. Am Ende wurde Port im November 2016 für den Mord an den vier homosexuellen Männern sowie wegen drei weiteren Vergewaltigungen von Männern, zehnfacher vorsätzlicher Verabreichung von Drogen und vier sexuellen Übergriffen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Heute zählen offiziell elf schwule Männer zu den Opfern von Port, die tatsächliche Zahl könnte viel höher liegen. Noch immer sind viele Fragen offen, noch immer streitet die Polizei ihr Versagen ab und beruft sich auf Personalmangel. Noch immer wurden keine wirklichen personellen Konsequenzen gezogen. Die Metropolitan Police steht inzwischen seit Juni 2022 bis auf weiteres unter Generaluntersuchung des Unabhängigen Büros für polizeiliches Verhalten.

Vor wenigen Tagen nun haben drei der vier Familien der ermordeten Opfer von der Londoner Polizeibehörde aufgrund von “Ermittlungsmängeln“ Entschädigungszahlungen in unbekannter Höhe erhalten. Experten sind sich sicher, dass Port nach dem ersten Mord bereits gefunden und festgenommen hätte werden können, wenn die Londoner Polizei nicht aufgrund von Homophobie schlicht weggesehen hätte. „Wären vier weiße, heterosexuelle Mädchen auf die gleiche Art und Weise tot aufgefunden worden wie Anthony, Gabriel, Daniel und Jack, dann wären die Maßnahmen der Polizei und die wahrscheinlichen Ergebnisse anders ausgefallen“, so der Anwalt der hinterbliebenen Familien, Neil Hudgell. Die Familien wollen den Fall insgesamt neu aufrollen lassen, ob das gelingt, ist derzeit fraglich. Hudgell bekräftigt indes: "Die unzureichenden Ermittlungen der Metropolitan Police zu den vier Todesfällen stellen eines der größten institutionellen Versäumnisse der modernen Geschichte dar, das durch den beklagenswerten Mangel an Reue, Bedauern oder Mitgefühl, den einige der beteiligten Beamten bei den Untersuchungen an den Tag legten, noch verschlimmert wurde!“

Die Behörde selbst beteuerte indes während der Bekanntgabe der Zahlungen, ihre Gedanken und ihr Mitgefühl seien „wie immer bei den Familien.“ Die Familien indes wollen nichts weniger als Gerechtigkeit und keine offenen Fragen mehr. Und sie wollen, dass ihre vier jungen Familienmitglieder nicht vergessen werden: Anthony Walgate (23) war angehender Modestudent; Gabriel Kovari (22) war eben erst aus der Slowakei nach London gezogen, um freier als homosexueller Mann leben zu können; Daniel Whitworth (21) arbeitete in seinem Traumberuf als Koch. Jack Taylor (25) lebte noch bei seinen Eltern, arbeitete als Gabelstaplerfahrer und sparte sein Geld für seine erste eigene Wohnung. Die Namen der mutmaßlichen anderen Todesopfer unbekannter Anzahl verschimmeln als “unverdächtige“ Todesfälle im Aktenarchiv der Londoner Polizei. 

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