Nisse „August“
Welcher Musikrichtung widmet man sich, wenn man aus der Lethargie der Dorfjugend nach England geflohen ist, geprägt von den Helden der 1980er-Jahre und gelandet im ersten deutschen Hip Hop? Es kann nur kreativ werden, wenn man sich die Musik von Nisse anhört. Die Kombination der verschiedensten Einflüsse, geprägt von all dem Erlebten des noch jungen Lebens, ergeben etwas komplett Neues, das für Nisse zum Alleinstellungsmerkmal wird.
Doch zunächst sah nichts nach Musik aus. Das Leben im tiefsten Süden Hamburgs, im Phoenix-Viertel, war der Vorort zur Hölle, wenn man es denn so nennen mag. Die Freizeit bestand aus Saufereien und Prügeleien, musikalisch waren die 1990er schon in den 1980ern hängengeblieben. Doch das war das einzige, was Nisse mochte, und so schallten neben Nena, Lindenberg und Reiser auch Falco, Drafi und Reim aus seinen Lautsprecherboxen. Und sogar Michael Jackson, eine zukünftige Konstante vom musikalischen Nisse, fand seinen Weg zur Dorfjugend.
Dann folgte der Cut, der abrupte Szenenwechsel. Der Dorfjugend entwachsen, aber noch nicht erwachsen, verschlug es Nisse nach England, wo er zur Schule ging. Und ausgerechnet dort, wo die Beatles und die Rolling Stones den Ton angaben, fand er zum deutschen Hip Hop, als er die ersten deutschen Rap-Songs aus der Heimat auf CD geschickt bekam. Ein seltsamer Zeitpunkt, wie es scheinen mag, doch eigentlich ein weiterer Haltepunkt im Genie, der sich später ergibt.
Und die nächste Station wartete schon. Hamburg, eine der schönsten Städte, wurde wieder zu seiner Heimat. Mit 17 Jahren wohnte Nisse in St.Pauli, hatte fortan einen Ausblick auf die Herbertstraße, auf einen Minikosmos, in dem Huren, Zuhälter und Freier in Koexistenz leben. Vor diesem Hintergrund wurde Nisse zum Hip-Hop-Aktivisten, der versuchte, mit Rap die Welt zu verändern. Doch der Erfolg blieb aus, und mit der Zeit zerbrach der Freundeskreis an den eigenen Erwartungen, an den Forderungen des Staates. Voller Ideen und Leidenschaften erfolgte früh eine Sinnkrise.
Neuorientierung. Nisse machte komplett Schluss mit der Szene, die ihn nicht voranbrachte und von der er keine Orientierung erwarten konnte. Er wollte zwischen dem harten Arbeitsalltag das Licht finden, dem er folgen konnte. Eindrücke und Probleme, Gedanken und Erinnerungen kamen zusammen und öffneten Nisses Horizont weiter als je zuvor. Für einen Mann, der schon bisher viel aufnehmen konnte, eröffneten sich neue musikalische Welten. Beatles, Grönemeyer, Prince, Bowie, Depeche Mode und natürlich Michael Jackson waren nun tongebend.
Mit letzterem verbindet ihn viel – kaum jemand sonst verstand es so gut, so viele Genres zu vermischen. Was für Jackson R&B und Disco-Funk waren, war für Nisse Rap und Soul. Und was für den King of Pop Rock-, Industrial- und Hip-Hop-Einflüsse wurden, wurden für Nisse Chanson, Garage, Indie und Elektro. Eine neue Vision formte sich im Kopf des Sängers, neue Texte, neue Melodien, die zu Demos wurden. Harte Arbeit, rund um die Uhr, um zu Musik zu machen, was sich im Kopf bewegte.
Abseits vom kommerziellen Ehrgeiz sind es die Kontraste aus Nisses Leben, die sich in „August“ niederschlagen. Mitten im und aus dem Leben, mit klaren Worten, die an Poesie grenzen, ohne kitschig zu klingen. Mit Melodien, die melancholisch-düster wirken, komplex sind, die Seele und das Herz streifen. Dort etwas hinterlassen, das zwischen bittersüßer Sehnsucht und Verlangen nach dem Leben hin- und herpendelt. Ein Wirbelsturm, der alles durcheinanderbringt, und einen dazu zwingt, aufzuräumen, neu zu denken.