House of Bellevue Verletzlichkeit und die Politik des Ballroom
Eine neue Serie auf ZDFneo taucht ab morgen tief in die queere Ballroom-Szene ein: Schon in den ersten Minuten markiert „House of Bellevue“ einen Ton, den deutsche Serien selten anschlagen. João, gespielt von Robin Cadet, spricht einen Satz aus, der wie ein Brennglas über der gesamten Erzählung liegt: „Ein safe Space ist nur eine Illusion, es ist ein brave Space überall.“ Kein romantischer Schutzraum, sondern ein Ort, an dem Menschen sich selbst behaupten müssen – das ist der Subtext, der sich durch alle sechs Episoden zieht.
Zwischen Sehnsucht und Selbstfindung
Die Produktion blickt zurück auf Tradition und Herkunft der Ballroom-Kultur, ohne nostalgisch zu werden. Die Serie positioniert sich fest im heutigen Berlin und verneigt sich zugleich vor ihren Ursprüngen. Im Zentrum steht Emm (Ricco-Jarret Boateng), ein 19-jähriger Afro-Deutscher, der seine Pflegemutter in Spremberg verlässt. Berlin erscheint ihm als Heilversprechen, eine pulsierende Metropole, in der er endlich die Freiheit finden will, die ihm zuhause verwehrt blieb. Schon bald landet er mitten in der Ballroom-Szene und begegnet Lia (Nora Henes), Choreografin und Organisatorin der großen Bälle der Stadt und „Mother“ des titelgebenden Houses. Sie erkennt sein Talent, nimmt ihn unter ihre Fittiche – und öffnet ihm ein Tor zu einer Welt, die ihn stärker fordert, als er ahnt.
Emm muss sich nicht nur choreografischen Prüfungen stellen. Er entdeckt seine Bisexualität, erlebt seine erste Liebe und ringt mit der Frage, wie viel von seinem Leben er auf dem Laufsteg zeigen will – und was davon privat bleiben darf. In der Figur spiegeln sich Erfahrungen vieler queerer Biografien wider, die von Entfremdung, Hoffnung und Selbstermächtigung geprägt sind. Boateng spielt Emm mit einer Mischung aus Naivität und Antrieb, die glaubhaft macht, dass es für diesen jungen Mann keinen Plan B gibt.
Glamour mit Rissen
Hinter der Bühne ist „House of Bellevue“ weniger glänzend. Nicht nur Emm, auch Lia kämpft mit inneren Dämonen. Die Beziehung zu House-Mitglied Mohammed (Kawian Paigal), einem traumatisierten Flüchtling, entgleitet und gerät in eine Spirale aus Sucht, Eifersucht und Hilflosigkeit. Gleichzeitig sieht sie sich wachsendem Druck aus der Community ausgesetzt: Sie wird beschuldigt, den Ballroom zu kommerzialisieren und „straightwashing“ zu betreiben. Was Emm zunächst als glamourösen Zufluchtsort erlebt, zeigt sich bald als komplexe Welt voller Konflikte, Loyalitäten und schmerzlicher Biografien. Die Performer verbindet letztlich nicht Ruhm, sondern Sehnsucht – nach Akzeptanz, Zugehörigkeit und Solidarität. Denn wenn alle Außenseiter sind, ist es keiner mehr.
„House of Bellevue“ verhandelt einen Streit, der seit Jahren in der Berliner LGBTIQ+-Szene präsent ist: Sollen Safe Spaces geöffnet werden oder nicht? Lia plädiert für Öffnung, weil sie glaubt, dass Sichtbarkeit notwendig ist, um Räume zu sichern. Jay (Lie Ning), ihr Rivale mit giftgrünem Haar, vertritt das Gegenteil: Abschottung als Schutzmaßnahme. Seine beißenden Kommentare und sein elitärer Anspruch stehen in direktem Gegensatz zu Lias Ideal. Die Serie zeichnet damit keinen moralischen Lehrplan, sondern dokumentiert, wie reale Communitys um ihre Zukunft ringen.
Figuren, die mehr sind als Nebenrollen
Die Stärke der Serie liegt im Ensemble. TJ (Ilonka Petruschka), eine trans* asexuelle Performerin, die sich nach einer schmerzhaften Distanz vorsichtig wieder an die Szene herantastet. Djamal (Abed Haddad), der Emm mit großem Herzen begleitet, während er als schwuler Syrer zwischen Fashion-Studium, Existenzdruck und Wahlfamilie balanciert. Mother Calista (Florence Kasumba), die über allem schwebt und ihre Loyalität weder offenlegt noch leichtfertig verteilt. Die Figuren sind keine Stereotype, sondern tragen Spuren persönlicher Biografien und Erfahrungen der realen Ballroom-Community.
Showrunner Kai S. Pieck betont: „Die Ballroom-Community ist ein ganz besonderer Schmelztiegel von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Identität. Mit ihren Häusern, Bällen und Laufsteg-Battles bildet sie einen Mikrokosmos, der einerseits ideal für den Unique Selling Point einer fiktionalen Serie ist, weil er das Publikum in eine den meisten unbekannte Welt entführt. Andererseits erzählt sie ihm Konstellationen und Emotionen, die universell sind.“ Seine Idee entstand aus Begegnungen mit Mitgliedern der Szene und aus eigenen Erfahrungen als Mentor. Nicht die Marginalisierung der Einzelnen, sondern das Zusammenleben der Menschen – das sei der Kern der Serie.
Mutig, verletzlich, unbequem
Die Ästhetik erinnert klar an „Pose“ und „Paris is Burning“. Doch trotz dieser Vergleichsgrößen schafft „House of Bellevue“ etwas, das kaum eine deutsche Produktion bisher erreicht hat: Sie gibt queeren Biografien Raum, ohne sie als exotisch darzustellen. Sie zeigt, wie brüchig queere Utopien sind – und warum sie trotzdem notwendig bleiben. Besonders berührend ist die Melancholie, die unter dem bunten Ballsaal pulsiert. Die Serie zeigt reale Berliner Orte – einige davon schließen gerade, andere existieren nur noch als Erinnerung. In Zeiten, in denen weltweit queere Räume verlieren, wirkt „House of Bellevue“ wie ein Appell: Bewahrt diese Orte, bevor sie verschwinden. Denn dort, wo Menschen ihre Würde selbst erkämpfen mussten, werden Transformation und Zugehörigkeit lebendig.
„House of Bellevue“ ist damit kein reiner Ausflug in eine Subkultur. Es ist ein dringlicher Beitrag zur Frage, wie wir Gesellschaft denken – und wer darin vorkommt. Wenn diese Serie ein Versprechen formuliert, dann dieses: Geschichten queerer, Schwarzer und migrantischer Menschen sind kein Randthema. Sie sind zentral, vielschichtig, laut, verletzlich, stolz und kompromisslos. Und sie erzählen noch längst nicht alles. Ab Freitag läuft die Serie via ZDF Streaming zu sehen, im Fernsehen wird die Geschichte ab 2. Dezember bei ZDFneo ausgestrahlt.