Direkt zum Inhalt
Leserumfrage // © fotografixx

Leserumfrage Geht die Szene kaputt?

vvg - 08.11.2018 - 07:00 Uhr

Ich habe nach 18 Jahren die Nase vom Leben in der Großstadt voll, ich werde im November dieses Jahres von Deutschland nach Österreich ziehen. Ich habe als schwuler Mann all meine Freiheiten in der Stadt ausgelebt und genossen, jetzt bin ich gesättigt und möchte mehr Ruhe in mein Leben bringen. Die Szene gibt mir schon lange nichts mehr, weil die Bedürfnisse danach nicht mehr da sind. Ich habe mein schwules Leben sehr genossen, schon zu der Zeit, als die anderen noch geträumt haben. Ich kenne die Städte München, Stuttgart, Mannheim, Frankfurt, Köln und Hamburg in ihren Glanzzeiten, heute ist überall der Glanz ab, die Szene ist nicht mehr das, was sie mal war. Was können die Gründe sein? Bei mir sind die Wünsche und Vorstellungen, die man in der Jugend hatte, nicht mehr da. Vielleicht liegt es daran, dass ich reifer und älter geworden bin, die Szene reizt mich einfach nicht mehr. Aber nicht nur die Zeit, sondern auch die Generation hat gewechselt und sich verändert und mit ihr auch der Charakter der Szene. Die Leute heute reden kaum noch miteinander, geflirtet wird auch nicht mehr, alles läuft sehr oberflächlich ab. In den 90er Jahren war "schwul sein" etwas Besonderes, etwas Exklusives. Heute ist „schwul sein“ alltäglich geworden, selbst verheiratete Männer suchen sich im Netz Partner für eine schnelle Nummer, um ihr sexuelles Bedürfnis heimlich zu befriedigen. Hinzu kommt, dass durch das Internet der Nachteil entsteht, dass viele Kneipen nicht mehr existieren, sie mussten schließen. In Österreich möchte ich ruhiger und ausgeglichener leben und nicht mehr wie früher auf der Suche sein. Ich konzentriere mich mehr auf gute Freundschaften, als auf Männer für gewisse Stunden. Ich weiß, dass ich zwischendurch sicherlich das bisherige Großstadteben vermissen werde, aber diesen Schmerz werde ich verkraften.
Eros W., Österreich

Ich denke schon, dass die sich selber kaputt macht. In Hamburg gibt es mittlerweile nur noch sehr wenig an Szene, weil die in den letzten Jahren auf nur noch 3 - 4 Läden zusammengeschrumpft ist. Früher gab es mindestens 10 verschiedene Ausgehmöglichkeiten. Dadurch, dass die Wirte nur sehr wenig machen und sich nicht mehr wirklich um die Leute bemühen, gehen auch nur noch wenige in die Bars. Ein weiterer Faktor ist natürlich das Internet: Der schwule Mann sitzt lieber im Netz, als in einer leeren Kneipe. ich glaube, dieses jahrelange darauf ausruhen (sich verlassen darauf, dass die Leute schon kommen) hat allen nicht gerade gutgetan. Jetzt stehen die Wirte da und haben das Problem, dass sie nicht mehr wissen, wie sie das covern können. Ferner hat die nachwachsende Generation kaum noch selbst etwas auf die Beine zu stellen, da sie merken, es bringt nicht mehr wirklich etwas. Früher musste für Freiheiten gekämpft werden und man hat sich entsprechend eingesetzt, etwas bewegt. Die Jugend ist weltoffener geworden, die gehen nicht nur in schwule Bars, sondern überall hin. Die denken über das Aussterben der Szene gar nicht nach. Das ist ja auch in Köln so, wo ich eine Zeitlang gelebt habe. Wenn man überlegt, wie viele Kneipen es dort gab, und wie viele davon noch existieren.
Ich finde das schade, da war man früher doch mehr unter seinen Leuten; das war schon eine andere Atmosphäre und ein anderes Miteinander. Heute macht sich die Szene nur noch einmal im Jahr beim stadteigenen CSD sichtbar und das ist ja mittlerweile auch mehr Party als Demo.
Letztendlich finde ich es wichtig, präsent zu sein und Stärke zu zeigen, denn die Zeiten, seitdem es eine AfD gibt, sehen nicht mehr so rosig aus. Es könnte sein, dass die Szene sich zurückerinnert und feststellt, dass sie Treffpunkte braucht. Man muss nur wachsam bleiben, denn wenn es dann „unsere Kneipen“ nicht mehr gibt, kommt es vielleicht zu einem „Christopher Street Day 2.0.“
Hoschi aus Hamburg

Ich bin eher der Meinung, die Blauen Seiten machen die Szene kaputt, weil die der Anlass sind, dass heutzutage kaum einer noch in die Szene geht. Vielleicht liegt es auch an den Monopolisten - obwohl es die früher ja auch schon gab - dadurch fehlt irgendwie das Individuelle. Heute gibt es nicht mehr die "Szene für Alle"; dafür gibt es zu viele Untergruppen: Da separieren sich die Jungen von den Alten, die Bartträger von den Glattrasierten, die Fetischleute von den „Schönen“ und die Schwulen von den Lesben.
Ich bin auch schon im Laufe der Jahre durch mein Äußeres in verschiedene Schubladen gesteckt worden: erst wurde ich durch meine Behaarung zu den Bären gezählt, mittlerweile zähle ich zu den „schönen Alten“ – dabei wollte ich mich niemals irgendwo einordnen. Schönheit ist eh` relativ und so was von vergänglich!
Ich glaube, es gibt nichts Intoleranteres als Schwule selbst. Ich finde es wichtig, dass es eine Szene gibt, denn die brauchen wir, um persönliche Kontakte aufzubauen. leider denken nicht alle so: Die jungen Schwulen sind der Meinung, die Szene ist überflüssig – wir haben ja alles erreicht - und gehen lieber in normale Kneipen und Biergärten. Und für körperliche Kontakte gibt es ja die Blauen Seiten. Die Folge ist natürlich schlechtbesuchte Szene-Kneipen und davon haben wir ja in den letzten Jahren einige von verloren.
Ich hoffe, dass sich das wieder ändert und sich einige darauf besinnen, dass wir eine Szene brauchen; so wie in den frühen Jahren, wo die Kneipen voll waren und die Leute noch miteinander kommunizierten. Das war für uns doch die Zeit der Befreiung; wo wir uns wohl fühlen konnten. Ich selbst brauchte mein Schwulsein nie verbergen, aber man weiß ja nie, ob wir in den nächsten Jahren unsere Freiheit wieder verlieren. Wie kann denn 2018 wieder Rassismus und Schwulenfeindlichkeit hochkommen, das ist für mich unbegreiflich.
Otto H., Köln

Ich habe vor 24 Jahren mit Claus Vincon den Hit „Der geilste Arsch der Welt“ geschrieben, als Köln noch die Gay-Hauptstadt Deutschlands war. Da hat sich in fast einem Vierteljahrhundert natürlich viel verändert. Von den aufgezählten Etablissements gibt es einzig noch das "Schampanja" in seiner ursprünglichen Form. Das Corner ist heute das Ex-Corner, und das Gloria sowie das Agrippa-Bad sind nicht mehr wirklich schwul.
Die Szene ändert sich: Läden kommen und gehen. Als in den 80ern die Aidskrise kam, schweißte das die Szene natürlich zusammen. Die Kneipen waren so etwas wie das Zuhause Gleichgesinnter. Aids ist heute keine tödliche Seuche mehr. Aber es kamen noch andere Dinge dazu: als ich von 2000-2008 das Café Barflo betrieben habe, kam erst die Umstellung auf den Euro, was sich an der Gästezahl bemerkbar machte, man ging nicht mehr 3-4 mal die Woche aus, sondern nur noch 1-2 mal. Dann kamen die schwulen Portale. Vorher war es nötig auszugehen, um jemanden kennen zu lernen, plötzlich war das unnötig. Ich erinnere mich an einen Abend, als wir uns wunderten, warum wir so von Gästen überrannt wurden: das Internet war ausgefallen.
Es gibt auch heute noch erfolgreiche Lokale. Ich muss jedoch auch zugeben, dass ich selbst nicht mehr so oft ausgehe wie früher und auch in Lokale gehe, die nicht schwul sind. Wir haben doch dafür gekämpft aus unserem „Ghetto“ rauszukommen, anerkannt und gleichgestellt zu sein, auch wenn wir uns dadurch ein wenig angepasst haben. Das „Gen“ des Andersseins tragen nur noch die Älteren in sich, für die heutige Generation ist es Normalität, offen zu leben. Sollten sich die Zeiten wieder ändern, so wie es die AfD derzeit propagiert, glaube ich schon, dass die Szene sich schnell wieder zusammenfindet und zusammensteht. Wir müssen die Augen offenhalten und müssen uns immer bewusst machen, dass es nicht selbstverständlich ist, wie wir hier leben können.
Stephan Runge, Sänger und Komponist

Die Szene macht sich durch das Internet selbst kaputt. Man trifft sich weder in den Kneipen, noch in den Clubs, alles läuft nur noch im Netz und das ist bedauerlich. Früher ging man aus, hat sich gefreut, Freunde zu treffen und alles war sehr familiär. Heute ist man neutral, will nicht erkannt werden, dass man „so“ ist. Ich bin Hamburger und war nach meiner Bäcker- und Konditorzeit auch im Nachtleben tätig: im „Tusculum“. Wenn ich die Szene von heute mit der damaligen vergleiche, ist es ein Unterschied wie Tag und Nacht. In den Läden sieht man nur noch wenige Gäste, alles läuft anonym, die Szenekneipen sterben aus. Ich glaube nicht, dass die Szene noch mal so hochkommt, wie ich sie von früher kenne. Die Läden waren brechend voll. Die Stimmung war immer großartig und jeder kannte jeden. Heute ist alles oberflächlich geworden. Vielleicht ist das auch ein Generationsproblem, denn man darf nicht den Einzug des schnurlosen Telefons vergessen. Jeder ist wichtig und muss überall und ständig erreichbar sein. Wenn man nicht online ist, funktioniert nichts. Früher hat man geflirtet, heute läuft das anonym ab und keiner weiß, wer der andere überhaupt ist. Per Handy weiß man auch, wie weit sich der Nächstbeste von einem aufhält, mit dem man sich ad hoc verabreden kann. Das ist schon extrem. Und umso extremer man ist, umso schneller wird man angeklickt. Schreibt man harmlose Sachen, klickt einen kein Schwanz an.
Hierin Chur ist vieles privater. Es gibt 2 - 3 Läden, wo man Gleichgesinnte treffen kann. Aus dem Grunde war es meinem Mann und mir wichtig, eine Bar aufzumachen, in der sich jeder wohlfühlen soll. Manchmal wünsche ich mir die früheren Zeiten zurück, weil es da einfach fairer zuging und wir viel Spaß miteinander hatten. Heute ist alles anonym und man konsumiert zu viele Drogen.
Darf ich noch einen Gruß an Olivia Jones in HH übermitteln? Die kennt mich allerdings nicht unter meinem richtigen Namen, sondern nur unter „Brötchen!"
Thorsten Glinka, Chur

Ich selbst war nie ein Kneipengänger, darum finde ich die Frage schwierig zu beantworten. Die Szene insgesamt verändert sich. Speziell die Kneipenszene hat sicher unter dem Aufkommen von Online-Dating-Plattformen gelitten. Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass die Menschen doch wieder mehr und mehr ausgehen, um sich wirklich zu treffen, mit allen Sinnen: Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, Fühlen. Das sehe ich auch hier bei uns im Boiler, wo sich Männer aus der ganzen Welt treffen. Ich denke, dass wir solche Orte schützen müssen, denn das Bedürfnis nach echter Begegnung ist groß. Wir werden immer Orte haben, an denen man sich wirklich trifft. Ich halte es durchaus für möglich - auch in Hinblick auf das Erstarken von Kräften wie der AfD, dass wir nochmal durch eine dunkle Zeit gehen müssen. Viele Menschen sind sehr ängstlich, sie wehren sich gegen Veränderungen. Gleichzeitig geschieht viel Wunderbares: Menschen jeglicher Herkunft verbinden und vernetzen sich, arbeiten zusammen und haben friedlich mit Freude viel Spaß zusammen. Ich erinnre mich noch gut, als die ersten syrischen Flüchtlinge den Boiler gefunden haben. Oft habe ich erlebt, dass Palästinenser und Israelis sich hier getroffen haben und viel Spaß hatten, generell Männer aus der ganzen Welt, die sich politisch vielleicht eher gegenüberstehen würden. Draußen hauen sie sich die Köpfe ein, bei uns wird zusammen sauniert, geknutscht und gefickt. Wenn sich alle so gut verstehen würden, hätten wir sicher weniger Kriege und Konflikte. Insgesamt merkt man ja, dass Grenzen und Schubladen sich verschieben und aufweichen. Ich denke wir entwickeln uns weg von einer Ghettoisierung. Auf der anderen Seite werden wir wohl auch immer das Bedürfnis haben, „unter uns“ zu sein. Ich sehe es optimistisch, denn ich glaube an Veränderung, sie ist die einzige Konstante, die wir haben. Ich bin von Grund auf Optimist, was anderes bleibt mir gar nicht übrig.
Thorsten L., Berlin

Auch Interessant

Pärchen Januar 2025

André und Martin

Hier war definitiv der Himmel im Spiel: Beide haben dasselbe Sternzeichen, denselben Aszendenten und auch noch das gleiche Mondsternzeichen
Pam Pengco

Comedian und Drag Queen aus Köln

Comedian und Drag Queen aus Köln, erobert seit kurzer erfolgreicher Zeit die Comedybühnen und ist derzeit mit ihrer Soloshow auf Tournee.
Pärchen Dezember 2024

Philipp und Philipp

Das doppelte Philippchen ist ein Herz und eine Seele und ihre Liebe schreibt das perfekte Drehbuch für einen Disney-Film...
Pärchen November 2024

Philipp und Marcel

Philipp und Marcel haben sich wie so viele im Internet kennengelernt, aber ihre Plattform ist eher ungewöhnlich: Twitter!
Im Interview

Chris Kolonko

Chris ist ein Allroundtalent, Meister der Verwandlung, exzellenter Schauspieler, hinreißender Varieté-Künstler und ein wortgewandter Entertainer.
Pärchen September 2024

Daniel und Christoph

Dieses Paar lebt als glückliche Regenbogenfamilie mit Söhnchen in Haus und Garten zusammen...
Ausgequetscht

Benni Bauerdick

ist Radio-Moderator, Fernsehreporter, Podcaster und Trauerbegleiter. Als Gesprächs-Partner in Podcasts und auf Bühnen setzt er sich für mehr...