Das ist Paris Galán Carlos Parra wuchs als schwuler Junge in Bolivien auf.
In Oruro ist die Zeit kaputt. Das werden Sie bei der Anreise bemerken. Im Bus können Sie Stunden mit dem bordeigenen Filmprogramm verplempern und selbst in der Einöde durch Instagram scrollen. Doch wundern Sie sich nicht, wenn einige Kilometer vor der Stadt Männer in Lama-Ponchos,, eine ausgestorbene Sprache brüllend, Steine und Feuer auf die Straße werfen und Sie den Rest der Strecke laufen müssen.
Über der Stadt liegt Staub als hätte man sie auf dem Dachboden vergessen. Alles, was die Menschen neu bauen, trägt am nächsten Tag Spuren fünfzigjähriger Benutzung und fällt auseinander. „Cheri Cheri Lady“ ist der Radio Hit überhaupt. Doch die wichtigste Eigenheit der kaputten Zeit: Es gibt drei Tage im Jahr, in denen die Einwohner Oruros Anderssein dulden – oder zumindest unterhaltsam finden. Diese drei Tage passt Carlos Parra jährlich ab, um in seine Heimat zurückzukehren.
Erste Sonnenstrahlen scheinen durchs Wellblechdach seines Elternhauses, Nässe frisst den Putz von den Wänden, auf einem Regal hat Carlos Parra rot-glitzernde High Heels aufgestellt. Drinnen pudern sich Frauen das Gesicht, draußen schlafen Betrunkene im Sand. Es ist Karneval.
Oruro liegt im Westen Boliviens. Die Stadt ist bekannt für ihre Bergwerke. Jährlich feiern die Einwohner den größten Karneval des Landes. Dann tanzen sie durch die Straßen als Drachen und Teufel verkleidet, und aus aller Welt strömen Besucher – knapp 350.000 warens in diesem Jahr. Solch reges Interesse für das Land gabs zuletzt im sechzehnten Jahrhundert als Spanier einfielen, die Bolivianer versklavten und das Silber aus ihren Bergen stahlen. Die bolivianischen Männer waren machtlos und spiegelten die Unterdrückung auf ihre Frauen, um wenigstens den eigenen Haushalt zu kontrollieren. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gingen die Spanier, doch der Machismo, der Männlichkeitswahn, blieb.
So wuchs Carlos Parra in einer Nachbarschaft auf, in der sich Männer aus Gründen prügelten, die sie schon wieder vergessen hatten, und Jungen, weil sie Männer sein wollten. Seine Geschwister brachten ihm bei, Tränen zu unterdrücken – die seien nur was für Mädchen. Doch sie merkten schnell: irgendwas stimmte mit dem Bruder nicht. Er spielte mit Puppen, weinte, wenn sie sie ihm wegnahmen. Seine Kindergärtnerinnen dachten, er sei ein Mädchen und steckten ihn in eine rosa Uniform, die er bis zur Einschulung trug. Alle riefen ihn nur „La Parra“, „die Parra“. Am lautesten schrie seine älteste Schwester: „Warum willst du ein Mädchen sein?! Es ist hässlich ein Mädchen zu sein!“
„Dabei wollte ich gar kein Mädchen sein“, sagt er. „Mir gefielen Jungs und Schminke, doch wie ein Mädchen fühlte ich mich nicht.“
Fünf Jahre seines Lebens war er allein; bis er ein Holzbänkchen an die Straße stellte, um die Karnevals-Parade anzusehen. Engel und Teufel tanzten vorbei, versuchten ihn mitzuziehen. Er krallte sich am Bänkchen fest, weinte „Nein, nein, lasst mich!“ Paukenschläge dröhnten, Blasmusik teilte den Zug, der weder Anfang noch Ende zu haben schien. Zwischendrin Männer in Perücken, Korsagen, Miniröcken, mit Lächeln auf rot geschminkten Lippen – die China Morenas. Er starrte ihnen nach. „Mi hijo, son maricones locos“, erklärte seine Mutter. Mein Sohn, das sind verrückte Schwuchteln.
Ob sie heute dasselbe über ihn sagen würde?
Fünfzig Jahre sind vergangen; er ist fünfundfünfzig. Make-Up kriecht in Falten auf seiner Stirn. Er kämmt sich ruppig durchs blonde Haar, das am Hinterkopf licht ist, Härchen fallen zu Boden. Seine Geschwister wohnen seit Jahrzehnten nicht mehr daheim – manche sind tot. Ins Elternhaus kehrt nur zu Karneval Leben ein. Dann flechten sich Frauen im Esszimmer funkelnde Bänder ins Haar, kleben ihre Brüste mit Paketband nach oben. Sie sind Carlos Parra´s Tanzgruppe. Der sieht nicht mehr beim Umzug zu – er tanzt mit. Wie Jahrzehnte zuvor, als er noch Kind war.
Monate fieberte seine Mutter dem Karneval entgegen. Tagsüber verkaufte sie Reis, Mehl, Zucker im Straßenladen. Nachts bestickte sie mit kleinen Augen die Tracht ihres Sohnes. Sie wollte ihn auf der Parade als Caporal laufen sehen.
Pfeife im Mund, Glocken an den Schuhen, in der linken Hand ein Hut, in der rechten eine Peitsche. Der Caporal imitiert Sklaventreiber, strahlt Autorität aus – ein richtiger Mann.
Ihn so zu sehen, machte sie stolz; auch Carlos Parra war zufrieden. Beim Festzug konnte er den China Morenas nahe sein. Den Männern, die auch außerhalb des Karnevals Kleider trugen. Die Einzigen, so glaubte er, die ihn verstehen könnten.
Mir gefielen Jungs und
Schminke, doch wie ein
Mädchen fühlte ich mich
nicht.
Es war eine Sommernacht Jahre später, als er ihnen begegnete. Auf dem Weg nach Hause hörte er sie rufen „La Parra!“ An der Straßenecke schimmerten sie aus der Dunkelheit. Beim ersten Gespräch war er nervös, wusste nichts zu sagen. Bei der ersten Führung durch ihr Ankleidezimmer war´s das Gleiche. Erschlagen von der Fülle an Tüllröcken, Kleidern und Perlenketten. „Wir hatten die Gemeinsamkeit anders zu sein, und daran auch nichts ändern zu wollen“, sagt Carlos Parra.
Dann streicht er sich Rouge auf die blassen Bäckchen und ruft nach Mayra. Ein bunt geschminktes Mädchen, Mitte 20, straffer Pferdeschwanz, markante Wangenknochen und Augen, die sagen „Hallo, schön dass du da bist.“ Seine Augen wiederum erzählen die Geschichte einer Infektion vor acht Jahren. Das Linke hängt blind herab, das Rechte erledigt in glasiger Anstrengung den Job von zwei.
Mayra klebt ihm orange-blaue Wimpern auf, die seine Wangen streifen. „Schminke ist meine Leidenschaft. Ich geb so viel Geld dafür aus, ich mag gar nicht mehr auf meine Kreditkartenabrechnung schauen“, sagt Carlos Parra. Tausende Eyeliner, Wimperntuschen und Lidschattenpalletten, für die er inzwischen Räume mieten muss, weil sie nicht mehr in seine Wohnung passen. Alles bezahlt vom Gehalt als Französisch-Dozent an der Universität La Paz.
In diesen Tagen reihen sich Schminkstände ganze Straßen entlang. Tänzerinnen stehen Schlange, um sich vom selben Lippenstift Herpes zu holen. Carlos Parra hat genug dabei, um drei eigene Stände zu bestücken; nur Concealer hat er vergessen. „Mayra, könntest du mir deinen leihen?“
Sie kramt in ihrem Schminktäschchen. „Möchtest du auch Glitzersteine?“, fragt sie. Er sieht Plastik-Diamanten neben ihren Augen funkeln. „In meinem ganzen Gesicht“ sagt er. Sie verziert seine Schläfen. Er betrachtet sich im Handspiegel, spitzt die Lippen zu einem Kuss, fährt sie mit rotem Lippenstift nach.
Mit fünfzehn schminkte er sich zum ersten Mal die Lippen rot. Jahrelang trug er Klamotten seiner Geschwister, aß tagelang nur dünne Suppe, weil das Geld nie reichte - für Kosmetik gleich zwei Mal nicht. Sein erster Lippenstift war ein selbstangerührter Brei aus Vaseline und Wasserfarben. „Eine Woche habe ich das Zeug nicht mehr aus dem Gesicht bekommen.“
In der Schule trug er enge Hosen, durch die man seine Unterwäsche sehen konnte - auch beim Volleyball. Er war der beste Spieler der Schulmannschaft. Jeder erzielte Punkt eine Gelegenheit sich von den Jungs beim Jubeln berühren zu lassen.
Zum Schulball wollte er als Königin des Sports. „Dafür musste man natürlich meinen Körper sehen, ist ja klar.“ Er nähte einen Bikini. Weil sein Geld nur für Stoffreste reichte, wurde das Höschen ein Tanga – umso besser, fand er. Als die älteste Schwester von seinem Auftritt erfuhr, stürmte sie sein Zimmer, riss den Bikini an sich und verbrannte ihn im Ofen. Jahre später wurde sie schwer krank. Erst im Anblick ihres Todes konnte sie dem Bruder verzeihen, dass er Frauenkleider trug.
Seine Mutter war besorgt. Wenn die eigene Schwester so ausbrechend reagierte, wie sollte es mit anderen sein? Ihr Junge musste normal werden. Sie schickte ihn nach La Paz – hunderte Kilometer entfernt von den China Morenas, mit denen er inzwischen täglich abhing. Sie hoffte ihn sicher in der Hauptstadt, doch ihr Sohn verbrachte Nächte in Schwulen-Clubs. Alle kannten und küssten sich. Carlos Parra hockte schüchtern in der Lounge. „Nicht mal aufs Klo hab ich mich getraut.“ Bis er Diana Sofia Galán kennenlernte.
Sie trug ein schwarzes Minikleid zu ihren schwarzen Augen. Zwanzig-Zentimeter-Absätze verlängerten ihre Beine, eine Perücke ihr Haar. Ein Mann, der Carlos Parra augenblicklich in seinen Bann zog.
Von seinem Gehalt als Nachhilfe-Lehrer kaufte sich Carlos Parra Perücken und Kleider. Trug zum ersten Mal High Heels, Schmuck, einen neuen Namen: Paris Galán.
Heute schneidern Professionelle seine Trachten. Paris Galán schlüpft in eine weiße Leggins. Auf Höhe der Schienbeine entfaltet sich neben den ersten Krampfadern ein Schlag aus Spitze; passend zur gerüschten Bluse, über die er ein pailletten-gespicktes Korsett anlegt. Die Bestickungen seiner High Heels schimmern im Licht der nackten Glühbirne. Er schreitet vorbei an Spinnenweben behangenen Fenstern, am Ofen, in dem sein Bikini brannte, zu den Tänzerinnen, die seit mehr als einer Stunde auf ihn warten. „Los, los beeilt euch!“, ruft er. „Wir haben keine Zeit!“, vergisst seine neue Größe und stößt sich den Kopf am Türrahmen.
Funklende Tücher um die Schultern gelegt, ihre Absätze hallen zwischen Backsteinhäusern, halten sie ein Taxi an. Acht Minuten und zwanzig Pesos leichter, stehen sie zwischen Verkäuferinnen, die „Cerveza, Cerveza!“, schreien und Besuchern einen Rausch für fünfzehn Pesos andrehen, im Funkeln unzähliger Trachten, deren Spiegel, Lichter auf bröckelnden Bordsteinen tanzen lassen.
Carlos Parra ist zurück in Oruro – als Paris Galán. Er tanzt den Whapuri, Anführer der Weber, Sinnbild für Reichtum und Männlichkeit. Dessen Darsteller tragen hohe Hüte und Schulterpolster. Selbst zwischen ihren bunt bestickten, schimmernden Kostümen sticht Paris Galán heraus. „Zu meiner Tracht gehören Ringe, Lippenstift und High Heels - na und? Das macht mich nicht weniger zum Whapuri“, sagt er.
Er betritt die Parade als wäre es seine. Lässt Perlenketten schwingen, während er in Drehungen nach vorne tanzt. Zu seinen Seiten vollbesetzte Tribünen und Mayra mit den schönen Augen, hinter ihm zwanzig Tänzerinnen, deren roten Trachten wie die Mittagssonne glühen, über ihn bunte Girlanden, die sich zwischen Stromkabeln spannen. Mit selbstbewusstem Lächeln zählt er den Takt. Seine Augen erhaschen Blicke eines kleinen Jungen, der ein Bänkchen an die Straße gestellt hat. Er ruft „Beso! Beso!“ Kuss! Kuss!
Paris Galán wirft ihm einen Luftkuss zu. Der Junge streckt sich als würde er den Kuss knapp über seinem Kopf vermuten, dann schnappt er ihn mit einer Hand und fragt seine Mutter: „Mama, Mama, wer ist das?“
Noch während sie antwortet, wünscht man sich, die Zeit in Oruro würde nun vollends kaputt gehen, um weiter in diesen drei Tagen leben zu können, in denen Anderssein in Ordnung ist; um weiter in dem Augenblick zu leben, in dem sie ruhig lächelnd sagt: „Mi hijo, este es Paris Galán.“
Mein Sohn, das ist Paris Galán.