Dokumentarfilm über queere Räume Kinofilm "Truth or Dare" über queeres Berlin
Die flirrende Stille nach dem Lockdown liegt noch spürbar über Berlins Kiezen, als Maja Classens Dokumentarfilm „Truth or Dare“ die ersten Bilder entfaltet: Verwaiste Clubs, vereinsamte Straßen, flüsternde Sehnsucht in Kamera-Interviews. Doch bald pulsiert Leben – in fragmentarischen Stimmen, die von Vertrauen, Gemeinschaft und Verletzlichkeit berichten. Mit einem präzisen, fast experimentellen Blick begleitet der Film Menschen verschiedener Herkunft auf ihrer Suche nach Zugehörigkeit in der queeren sexpositiven Szene der Hauptstadt.
Berlin als Magnet für Sehnsüchtige
Kaum eine andere Stadt steht so exemplarisch für Selbstfindung und sexuelle Freiheit wie Berlin. Schon seit der Weimarer Republik strömten Menschen hierher, um jenseits von Konvention und Zwang neue Räume des Begehrens zu entdecken. Auch heute gilt die Metropole als Schutzraum – vor allem in Zeiten, in denen Queerness andernorts noch immer Ziel von Ausgrenzung und Verfolgung ist.
Diesen offenen Geist berührt Classens Film, wenn er die Geschichten der Protagonistinnen und Protagonisten verflicht: Dita Rita Scholl, Ann Antidote, Nicky Miller, Rob Talin und Diana Kleimenova berichten in den 75 Minuten von langen Nächten, gleißendem Liebeskummer, Konsens und Sexarbeit – und auch davon, was es bedeutet, aus repressiven Herkunftsfamilien zu fliehen. Immer wieder leuchtet auf: Mit der Wahl von Berlin als Lebensmittelpunkt beginnt für viele der Schritt ins eigene, queere Selbst.
Statistiken belegen, dass etwa 17 Prozent der Berliner Bevölkerung sich als Teil der LGBTIQ+-Community versteht – Tendenz steigend. Fast jede zweite queere Person gibt an, Berlin als internationalen „Safe Space“ zu wählen, nicht zuletzt aufgrund des vielfältigen Angebots an sexpositiven Veranstaltungen und Clubs wie dem KitKatClub, dem SchwuZ oder dem S036, die als kulturelle Marker der Szene zum Mythos taugen.
Der Wert von Konsens und Selbstbestimmung
Mit ihrem sensiblen, dokumentarischen Ansatz lenkt Regisseurin Maja Classen den Blick weg von Klischees: Vielmehr erzählt sie vom Alltag und dem fortwährenden Ringen um Anerkennung. Konsens – ein Begriff, der spätestens seit #MeToo auch in queeren und sexpositiven Kontexten diskutiert wird – steht oftmals im Mittelpunkt. Die Protagonistinnen und Protagonisten schildern, wie wichtig gegenseitiges Einvernehmen und beständige Kommunikation sind, um Intimität und Lust sicher sowie erfüllend erleben zu können.
Gerade im Rahmen von Sexarbeit, die in vielen Ländern weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert ist, wird dieses Thema greifbar. Selbstbestimmung, wie sie in der queeren Community verteidigt wird, hat Schnittmengen mit Forderungen nach gesellschaftlicher Anerkennung sexarbeitender Menschen. Eine Studie der Deutschen Aidshilfe zeigt, dass etwa die Hälfte aller queeren Sexarbeitenden in Berlin Diskriminierung erlebt. „Truth or Dare“ gibt diesen Erfahrungen ein Gesicht – und fordert indirekt zur Reflexion über gesetzliche und soziale Rahmenbedingungen für Selbstbestimmung auf.
Auch der Aspekt der Flucht aus autoritären, vielfach faschistisch geprägten Herkunftsfamilien ist erschütternd präsent. Viele queere Berlinerinnen und Berliner sehen im städtischen Nachtleben nicht nur eine Bühne der Lust, sondern einen Schutzraum, der sie vor körperlicher und seelischer Gewalt bewahrt.