Elektronische Patientenakte Medizinischer Fortschritt oder Risiko zwischen Zwangsouting und HIV-Diskriminierung?
Ab Mitte Januar erhalten alle gesetzlich Versicherten eine elektronische Patientenakte, kurz ePA – es sei denn, sie widersprechen („opt-out“). In der ePA sollen künftig alle wichtigen medizinischen Informationen zusammengeführt werden. Seit der ersten Idee der ePA regt sich in der Community viel Widerstand und Bedenken an dem neuen Verfahren, gerade wenn es um besonders sensible Daten geht, zum Beispiel bei Menschen mit HIV.
Andere befürchten ein Zwangsouting oder mehr Diskriminierung. Panikmache oder sinnvolle Kritik? SCHWULISSIMO fragte nach bei Sozialpädagoge Torben Beimann, fachlicher Leiter für die Beratungs- und Begleitangebote in den Themenfeldern Leben mit HIV, Konsum und Rausch, Frauen und Familien, Migration und Flucht der Aidshilfe Köln.
Mit Blick auf homosexuelle und queere Menschen sowie Personen mit HIV, wie bewerten Sie die Einführung der ePA gerade für die Community?
Als Mitarbeiter in der Aidshilfe Köln hat die Einführung der ePA unterschiedliche Aspekte und ob Menschen die ePA begrüßen, teilweise oder ganz ablehnen, ist eine hoch individuelle Entscheidung. Dazu gehört die eigene Identität und die Einstellung zu mir, meiner Person und meinen Daten: Wer soll und darf wissen, wie ich meine Sexualität lebe oder meine Identität definiere und wer soll und darf wissen, welche Diagnosen zu mir und meiner Person gehören? Aus medizinischer Sicht hat die ePA durchaus Vorteile: Schaut man zum Beispiel auf die medikamentöse Therapie bei einer HIV-Infektion, dann macht es bei weiteren verschriebenen Medikamenten Sinn, wenn die Behandler:innen von der antiretroviralen Therapie wissen. So können Wechselwirkungen berücksichtigt werden. Gleichzeitig wissen wir von Studien und aus unserer täglichen Beratungsstellenarbeit, dass noch immer Diskriminierung im Gesundheitswesen eine der häufigsten Erfahrungen von Menschen mit einer HIV-Infektion sind. Es gibt Patient:innen, die uninformierten Behandler:innen mit all den Vorurteilen selbstbewusst und empowert begegnen und diese konfrontieren. Ich kann aber ebenso jede Person verstehen, die sagt, das ist aber nicht mein Job, ich erwarte von den Profis, dass sie informiert sind, und ich möchte nicht permanent für meine Rechte einstehen und kämpfen müssen. Solange die Diskriminierung im Gesundheitswesen eine reale Erfahrung bleibt, solange verstehe ich jede kritische Auseinandersetzung mit Inhalten wie der ePA.
Aus der Community hören wir auch von massiven Bedenken, wenn es um die Datensicherheit geht oder schlicht um die Tatsache, dass die ePA auch eine Art von Zwangsouting herbeiführen kann – beispielsweise, wenn die Arzthelferin am Empfang des Orthopäden einsehen kann, dass der Patient gegen Mpox geimpft ist, gegen STIs behandelt wurde oder HIV-positiv ist. Oder im Fall von psychologischen Erkrankungen: Der Zahnarzt muss ja nicht wissen, dass ein Patient vielleicht vor zehn Jahren unter Depressionen litt. Kurzum, können Sie die Bedenken aus der Community verstehen?
Ja, ich kann die Bedenken verstehen. Gleichzeitig ist es immer auch eine Frage, inwieweit ich meine Sexualität und meine Identität als "anders Sein" verstehe. Das eine Praxis durch die ePA nun vor dem allerersten Termin bereits alles über mich erfahren könnte, ohne, dass ich mir selber einen Eindruck verschaffen konnte, ob ich mich hier wohlfühle und inwieweit ich welche Details zu meiner Person teilen möchte, finde ich kritisch. Fakt ist, dass außerhalb von Community-nahen Praxen und Behandler:innen eine heteronormative Sichtweise vorherrscht. Hinzu kommt, dass mir in ländlichen Regionen häufig die Auswahl von Ärzt:innen fehlt, weil das Angebot zu klein ist. Wenn dann noch hinzu kommt, dass das Praxispersonal gleichzeitig auch Nachbar:in, Bekannte:r oder ähnliches sein kann, kann ich gut nachvollziehen, dass ich mir generell gut überlege, wer was von mir wissen darf. Diese Auseinandersetzung wird mal bewusst und mal situativ und unbewusst entschieden.
Zudem sollen die Daten auch zu "Forschungszwecken" verfügbar sein. Auch das kann bei aller Bescheinigung ob einer anonymen Weitergabe der Daten für Angst unter LGBTI*-Menschen führen.
Formal werden die Daten pseudonymisiert weitergegeben und gespeichert. Die Deutsche Aidshilfe weißt zurecht auf folgenden Aspekt hin: Insbesondere bei Gesundheitsdaten ist eine Re-Identifikation relativ einfach. Dies ist möglich, wenn man unterschiedliche Datensätze zusammenführt. Für mich völlig unverständlich ist, dass das Forschungszentrum bisher kein schlüssiges Sicherheitskonzept vorlegen konnte. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) hat daher gegen diesen Inhalt geklagt. In den Vorinstanzen hat die GFF recht bekommen, das Hauptverfahren ruht derweil, da das Gericht ohne das genannte Sicherheitskonzept nicht beurteilen kann, ob die Datenverarbeitung sicher ist oder nicht.
Klingt nicht wirklich beruhigend. Die ePA ersetzt zudem nicht die herkömmlichen verpflichtenden Patientenakten, sondern stellt eine Sekundärdokumentation dar. Von HIV-Schwerpunktpraxen hörten wir zuletzt viel Kritik daran: Mehr Arbeit, kaum Vorteile, dafür noch weniger Zeit für den Patienten. Was denken Sie?
In Gesprächen mit Behandler:innen wurde deutlich, dass kein einheitliches Konzept beziehungsweise Vorgaben bestehen, wie Dokumente in der ePA benannt oder abgespeichert werden sollten. Zusätzlich sieht die ePA keine Volltextsuche vor, sodass die Gefahr besteht, dass es in komplexen Krankheitsverläufen ein sehr unübersichtlicher Dokumentendschungel in der ePA wird. Neben der Frage, wie hilfreich dann eine ePA ist, stellt sich auch die Frage, wie regresspflichtig ist eine behandelnde Person, wenn sie Informationen in der ePA übersehen hat, mit der ein Behandlungsfehler vermeidbar gewesen wäre. Die Grundidee, komplexe Behandlungen sichtbar zu machen und zum Beispiel unnötige bildgebende Verfahren und Untersuchungen einzusparen, da es die Informationen bereits gibt, sind aus ökonomischer Sicht mit Sicherheit begrüßenswert. Leider hält die aktuelle Programmierung der ePA hier wenig Komfortfunktionen für Behandler:innen und Patient:innen vor. Man stelle sich Dateiordner in geteilten Serverumgebungen vor. Ohne eine Definition, wie Dokumente abgelegt werden sollen, entsteht ein heilloses Chaos. Das ist hier leider auch zu befürchten. Und kein:e Behandler:in hat die Zeit, eine umfassende ePA nach Informationen zu durchsuchen. Also bleibt es am Ende dabei, dass die Qualität der Anamnese und des Gespräches zwischen Ärzt:innen und Patient:innen entscheidend sein wird, ob alle Informationen vorliegen, um eine optimale Behandlung zu ermöglichen. Das kann keine ePA ausgleichen!
Es soll ein mehrstufiges Widerspruchsmodell geben, welche Daten wie weitergegeben werden – ob das wirklich praktikabel ist, muss sich erst noch zeigen. Was sollen beispielsweise schwule Senioren mit HIV tun, die digital nicht fit sind? Wie bereits erwähnt, kommt es gerade hier immer wieder im Gesundheitsbereich zu Diskriminierungen. Das könnte sich mit der ePA weiter verschärfen, oder?
Wenn sich jemand entscheidet, dass die HIV-Infektion in einer ePA nicht sichtbar sein soll, dann muss man sich zunächst fragen, an welcher Stelle die Infektion denn sichtbar oder ableitbar ist: In den Diagnosen, in Arztberichten, Entlassungsberichten, Laborbefunden, im Medikamentenplan oder in den Abrechnungsdaten. Als Patient:in hat man nun die Möglichkeit, in den einzelnen Bereichen Dokumente zu verschatten, also auszublenden, oder einzelnen Bereichen der ePA zu widersprechen. Darüber hinaus müssen Patient:innen in Bezug auf psychische Erkrankungen, sexuell übertragbare Infektionen und Schwangerschaftsabbrüchen von der behandelnden Person informiert werden, dass einer Übertragung in die ePA widersprochen werden kann. Wie diese Beratung aussieht und Widersprüche festgehalten werden, bleibt noch ziemlich unklar. Ich kann sehr gut verstehen, dass Menschen, die in ihrem Leben Diskriminierung und Stigmatisierung erlebt und erfahren haben, der Einführung der ePA sehr kritisch gegenüberstehen. Es ist ein Unterschied, ob die Informationen zu meiner Person in einer Akte gesammelt werden, bei der ich nicht weiß, wer wann und wie intensiv dort hineinschaut, oder ob ich im persönlichen Gespräch situativ entscheide, was ich über mich mitteile. Tatsache ist aber auch, dass viele Menschen in Behandlungssituationen sehr nervös sind oder Angst vor der Untersuchung haben. In solchen Situationen kann es passieren, dass man vergisst, wichtige Dinge zu erzählen, weil man aufgeregt ist. Hier kann eine ePA sehr hilfreich sein.
Die Verbraucherzentrale warnt vor Datenlecks und Cyberangriffen bei der ePA. Sensible Gesundheitsdaten könnten in falsche Hände geraten, was bei vulnerablen Gruppen wie LGBTI* besonders dramatisch ausfallen könnte. Dazu kommt, dass laut Gesetzesbeschluss erst ab 2030 protokolliert wird, wer auf die Daten eines Patienten tatsächlich zugegriffen hat. Wie hoch schätzen Sie diese Gefahren ein?
Weltweit sind Einrichtungen des Gesundheitssystems Ziel von Hackerangriffen, regelmäßig gepaart mit Erpressungsversuchen und Geldforderungen, um Systeme wieder zugänglich zu machen. Ein Server, auf dem Daten von Millionen Versicherter liegen, dürfte ein spannendes Angriffsziel sein, ob aus Spaß am Hacken, weil man Sicherheitslücken aufzeigen möchte, oder aus kriminellen Motiven; ich gehe fest davon aus, dass diese Server ins Visier rücken und wir dazu noch einiges lesen werden. Das oben erwähnte Gerichtsverfahren gibt Anhaltspunkte zur Datensicherheit. Hinzu kommt, dass meine Daten bei der App-Anwendung nicht Ende-zu-Ende verschlüsselt sind. Nutze ich die App auf einem Smartphone, auf denen ich auch andere Apps nutze, entstehen Sicherheitslücken. Einen Teil der Sicherheit habe ich dabei selbst in der Hand. Aber der weitaus größere Teil ist kaum einschätzbar und diese Unwägbarkeit macht das Thema so sensibel.
Mit welchen Fragen oder Ängsten wenden sich Schwule an die Aidshilfe mit Blick auf die ePA?
Die Fragen reichen von der Sorge, ein „gläserner Mensch“ zu sein, über die Befürchtung, nicht mehr die Hoheit über die eigenen Daten zu haben, bis hin zu technischen Fragen, wie man mit der jeweiligen App der eigenen Krankenkasse umgeht. Dabei gibt es Menschen, die klar benennen, dass sie sowieso alles in den sozialen Medien teilen, dann komme es jetzt auch nicht mehr auf die ePA an. Andere führen eine intensive Auseinandersetzung mit Ängsten vor Zwangsouting und Diskriminierung. Die Sorge, was man sagen soll, wenn Ärzt:innen nach dem Grund fragen, warum man keine ePA hat, oder teile nicht sichtbar macht, verschärft den gefühlten Druck in der Auseinandersetzung. Gleichzeitig kennen viele Menschen mit der Diagnose HIV diese Auseinandersetzung seit vielen Jahren, da sie sich bei allen neuen Fachärzt:innen und Behandler:innen oft aufs Neue fragen, was sie wann und wie mitteilen. Die ePA macht diese Auseinandersetzung noch einmal anders sichtbar. So berichten Menschen, dass sie zunächst einmal der ePA widersprechen und abwarten möchten, was die Erfahrungswerte in den kommenden Monaten und Jahren sein werden. In Gesprächen habe ich festgestellt, dass es Menschen gibt, die alles in der ePA sichtbar machen und freischalten möchten und wiederum andere Menschen möchten der ePA insgesamt widersprechen. Hier gibt es aus meiner Sicht kein richtig oder falsch. Vielmehr muss man die Bedenken jeder einzelnen Person sehr ernst nehmen und die Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen, um eine individuelle Entscheidung zur eigenen ePA treffen zu können.
Herr Beimann, vielen Dank für das Gespräch.