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Der unbekannte HIV-Status
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Der unbekannte HIV-Status Warum gibt es so viele „Late Presenter“?

ms - 30.04.2025 - 10:00 Uhr

In Deutschland leben rund 96.700 Personen mit HIV (Stand Ende 2023), rund 8.200 davon wissen nichts davon – oder wollen es nicht wissen? Rund jede dritte Diagnose (33%) wird erst bei fortgeschrittener Erkrankung oder dem Vollbild Aids erstellt, die sogenannten „Late Presenter“. Jene Menschen haben eine bis zu zehn Jahre kürzere Lebenserwartung. SCHWULISSIMO fragte nach bei Christian Giebel von der Aidshilfe Hamburg. 

Wie sieht es aktuell im Bereich Late Presenter aus? 

Der Anteil der Menschen, die bei einem HIV-Test mit einem geschwächten Immunsystem und/oder Aids-definierenden Erkrankungen diagnostiziert werden, ist konstant hoch. Je später die Diagnose, desto schwieriger ist es, das Immunsystem vollständig zu stabilisieren. Spätfolgen werden dadurch unkontrollierbarer. Medizinisch gesehen gibt es in Deutschland keinen Grund für eine Aids-Diagnose. Das Problem hat hier aber einen Namen: Stigma. Das müssen wir loswerden. 

Wieso werden so viele Menschen zu Late-Presentern?

Dieses Thema ist wahnsinnig komplex, weil es eine Vielfalt von Themen berührt. Bevor Du die hochwirksame Therapie nutzen kannst, musst Du deinen Status kennen, musst Du dich testen lassen. Aber dieser Schritt ist nicht immer so einfach. Die eigene Wahrnehmung des Schutzverhaltens kann verschoben sein. Dazu kommen unzureichende Gratis-Testangebote, Rassismus-Erfahrungen im Gesundheitssystem, das Risikobewusstsein "Mich betrifft es ja nicht… ich bin nicht gay... ich hab wenig Sex" und immer die Angst vor Moral und Stigmatisierungen nach einem positiven Ergebnis. Scham und Schuld. Viele Menschen verbinden HIV noch immer mit "verbotenem" oder "unmoralischem" Verhalten. Wir bekommen verstärkt auch Hilferufe von Menschen, die gar keine Krankenversicherung haben. Das alles führt dazu, dass sich Menschen gar nicht oder sehr spät testen lassen. 

Was können wir dagegen tun?

Wir müssen weiterhin zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit über die Segnungen der aktuellen Therapien sprechen und täglich in die Welt rufen: Nicht-Infektiosität! Menschen mit HIV unter funktionierender Therapie können das HI-Virus beim Sex nicht mehr übertragen. Wir müssen das "alte Aids" loswerden. Die Erinnerungen an die Aidskrise sollten immer lebendig gehalten werden, aber wir müssen die Bilder von "HIV heute" frei machen von Tod und Sterben. Die Lebenswirklichkeiten der Menschen mit HIV haben damit nichts mehr damit zu tun. Wenn wir positive Bilder vermitteln können, dann gehen Menschen auch zum Test, weil die Angst weniger wird. Wir müssen HIV als chronische Erkrankung darstellen, ohne dabei zu verharmlosen. Denn Fakt ist auch: Das gilt alles nur, wenn Du Zugang zu einer funktionierenden Therapie hast. 

Mir drängt sich der Eindruck auf, niemand will mehr über Aids reden, gerade auch nicht in der Community. 

Warum sollten Menschen das auch tun? Aids ist ab einem bestimmten Zeitpunkt sowieso untrennbar mit der Geschichte der Community verbunden. Aber wichtiger ist es, endlich damit anzufangen, unbefangen übers Ficken zu reden. Sprecht über Sexualitäten, darüber, was euch geil macht und was ihr tun möchtet. Wenn wir Sexualität als diesen "Übermythos" endlich mal runterkochen könnten, wären auch Geschlechtskrankheiten ein kleineres Thema. 

Die Nutzung von Kondomen in der Community nimmt immer weiter ab. Ich habe kürzlich einen Kommentar eines schwulen Influencers gelesen, der sich lustig darüber machte, dass auf sexpositiven Events überhaupt noch Kondome verteilt werden. 

Kondome gehören immer weniger zu Lebensrealitäten queerer Personen. Ein gutes Zeichen ist doch, dass auf sexpositiven Events überhaupt Gummis verteilt werden. Es gibt also noch immer einen Bedarf. Es gibt Menschen, die wollen nicht und Menschen die können aus irgendwelchen Gründen kein Kondom nutzen. Du willst Sex mit Gummi? Dann bestehe auch darauf und mach. Da gibt es nichts Lächerliches dran. Und wenn dieser Influencer es witzig findet, Menschen, die ihren Safer-Sex-Weg gefunden haben, lächerlich zu machen, dann sollte man ihm vielleicht nicht mehr folgen. Gab es jemals mehr Elemente im Safer-Sex-Baukasten, die uns sexuell übertragbare Infektionen vom Hals halten können? Das sollten wir in erster Linie abfeiern. 

Junge Schwule blicken mitunter sehr gelassen auf HIV und riskieren so vielleicht eine Ansteckung bei ungeschütztem Sex. Deine Einschätzung dazu?

Das Tolle ist doch, dass schwule Männer tatsächlich gelassener auf das Thema Sexualitäten schauen können. Was ist denn dieses "ungeschützt"? Sex ohne Kondom unter PrEP? Sex mit einem HIV-Positiven unter der Nachweisgrenze ohne Gummi? Beides kein Risiko auf HIV. Jede sexuelle Aktivität bedarf gegebenenfalls einer entsprechenden Safer-Sex-Strategie. Das muss ich wissen und dann meine Risiken abwägen. Der Job von Aidshilfe ist es immer gewesen, Menschen so viele Informationen an die Hand zu geben, dass sie ihre eigenen Entscheidungen zum Thema Safer-Sex treffen können. Mich hat auch immer diese Fantasie irritiert, als würde es so etwas wie "safen Sex" geben. Ein Irrglaube. Wer Sex hat, hat Spaß und setzt sich Risiken aus. Manchmal "Herzschmerz", manchmal eine STI. Genießt den Frühling, die Sonne und #ExpressYourself, sage ich als großer Madonna-Fan.

Christian, vielen Dank für das Gespräch.

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