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David Stuart // © www.davidstuart.org

ChemSex In London bis zu zwei Todesfälle im Monat

id - 30.11.2019 - 20:00 Uhr

David Stuart (52) hat den Begriff „Chemsex“ maßgeblich mitgeprägt. Er entwickelte die weltweit ersten Chemsex-Unterstützungsdienste und kämpfte unermüdlich für ein größeres Bewusstsein für Chemsex, indem er den kulturellen Dialog und die Diskussion in unseren internationalen Schwulen-, Bi- und Queer-Communities anregte. SCHWULISSIMO sprach mit ihm über das Thema Chemsex und die Folgen.

David, erzähle uns doch zunächst etwas über dich bzw. deine Arbeit. Du giltst ja allgemein als „Vater“ des Begriffes „Chemsex“. Wie kam es dazu?

Vor 20 Jahren, gerade zu einer Zeit, als sich der Drogenkonsum von den typischen Party-Drogen Ecstasy und Kokain zu den Hardcore-Drogen wie Methamphetamin und GHB verlagerte, stellten ich und eine kleine Gruppe von Sex-Buddys fest, dass auch wir uns mit unserem Konsum verlagerten. Wir hatten das Gefühl, dass wir quasi als Abschluss eines Discobesuchs den Weg in Sexclubs und Saunen brauchten.  Damals waren diese Drogen noch nicht sehr weit verbreitet. Wir waren eine kleine Gruppe, die sich zusammengetan hat, um auf diese speziellen Drogen aufmerksam zu machen, (normalerweise in Saunen; es war schließlich lange vor Gaydar und Grindr. Wir nannten uns „Chemsex Club“. Jahre später, hatte ich mit diesem Lebensstil zu kämpfen und brauchte Hilfe. Es schien, dass ich überall, wo ich nach Hilfe suchte, niemand fand, der meinen spezifischen Drogenkonsum und mein Verhalten verstand. Sie haben einfach nicht den schwulen Sex-Fokus meines Drogenkonsums erkannt und das war nicht hilfreich. Ich brauchte kulturspezifische Unterstützung von Leuten, die das Saunaleben, die Kontaktkultur, diese Drogen und hauptsächlich schwulen Sex verstanden. Deshalb habe ich es mir dann zur Aufgabe gemacht, dieses spezielle Phänomen der schwulen Gemeinschaft zu benennen, von dem immer mehr schwule Männer in meinen Communitys betroffen waren. Ich begann mich dafür einzusetzen, dass Chemsex ein normaler Bestandteil der homosexuellen und sexuellen Gesundheitsfürsorge ist. Ich setzte mich hart dafür ein, dass Chemsex ein bekanntes Phänomen ist, das in die Gesundheitspolitik unserer Regierungen aufgenommen wurde, weil es für zu viele von uns die Gesundheit und das Wohlbefinden beeinträchtigte. „Chemsex Harm Reduction“ (Schadensminimierung) unterscheidet sich stark von def „Heroin Harm Reduction“ oder der „Alkohol Harm Reduction“. Ich freue mich sagen zu können, dass meine Bemühungen in London erfolgreich waren und ich beim Aufbau von Londons allerersten Chemsex-Unterstützungsdiensten unterstützt wurde. Ich mache weiter mit meiner Kampagne, Chemsex in anderen Städten der Welt zu identifizieren und die öffentliche Gesundheit und die Community dabei zu unterstützen, effektiv auf die sich entwickelnden Chemsex-Trends zu reagieren.

In der schwulen Szene gibt es ja durchaus unterschiedliche Meinungen, welche Substanzen bzw. Rauschmittel unter die Kategorie „Chems“ fallen. Viele meinen beispielsweise, dass Poppers nicht dazugehören würde. Eine Frage, die sich auch immer wieder aufdrängt, ist ja, warum wird bezüglich „Chemsex“ oft ganz anders agiert, als bei anderen Drogen. Schließlich gab es die Verbindung von Drogen und (schwulem) Sex ja irgendwie schon immer. Egal ob nun Alkohol, in den Neunzigern eher Ecstasy oder eben das bereits erwähnte Poppers. Warum werden diese Unterschiede überhaupt gemacht?

Aus wissenschaftlicher Hinsicht scheinen Partydrogen sehr ähnlich zu sein. Sogar ihre chemischen Strukturen sehen ähnlich aus. Aber wie sie uns fühlen und handeln lassen ist der wahre Unterschied. Homosexuelle Männer konsumieren seit vielen Jahren Poppers, Ecstasy, Alkohol, Viagra und Kokain im sexuellen Kontext. Besonders in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren, als der Gebrauch dieser Drogen besonders verbreitet war. In diesen Jahrzehnten haben wir nie eine besorgniserregende Anzahl schwuler Männer gesehen, die mit den Folgen dieser Drogen zum Rettungsdienst eilten. Wir haben keine besonders große Anzahl schwuler Männer gesehen, die Zugang zu Drogenunterstützungsdiensten hatten. Wir haben auch keine Zunahme von Überdosierungen oder Todesfällen gesehen.
Diese Drogen, jene Freizeitdrogen, die wir in jenen Jahren favorisierten, waren in keiner Weise für ein bestimmtes Anliegen der öffentlichen Gesundheit oder für einen Alarm der Gemeinschaft verantwortlich. Tatsächlich argumentieren viele Leute, dass diese Parteidrogen tatsächlich hilfreich waren; Wir helfen uns zu vernetzen, zu kommunizieren und uns zu versammeln – vor allem auch in einigen sehr schwierigen Jahren mit Vorurteilen und der AIDS-Hysterie. Chems und Chemsex sind dabei sehr unterschiedlich. Als Kristallmethamphetamin, Cathenone und GHB/GBL die am häufigsten verwendeten Drohen wurden, sahen wir einen recht starken Anstieg von Überdosierungen, Todesfällen und Aufnahmen in der Notaufnahme. Zudem kamen zunehmend Schäden durch injizierenden Drogenkonsum. Diese Drogen bzw. Chemikalien wirken in unserem Körper und Verhalten unterschiedlich; Sie fühlen sich anders an. Sie definieren ein ganz anderes Phänomen des Drogenkonsums. Dies ist der Grund, warum sich Chemikalien besonders von Drogen unterscheiden, die wir in der Vergangenheit verwendet haben.

 

Dabei gibt es natürlich nicht nur den Spaß am Sex, sondern teilweise auch gravierende Nebenwirkungen, die viele unterschätzen. Was sind denn die größten Risiken beim Chemsex?

Es gibt viele Leute, die sich an Chemsex erfreuen, ohne allzu viele Probleme zu haben, aber es gibt auch viele Leute, die diese Probleme haben. Am offensichtlichsten ist der Tod durch eine GHB/GBL-Überdosis. Wir haben ungefähr zwei pro Monat in London, aber leider messen andere Städte dieses Problem nicht. Es gibt auch die sehr gefährlichen und störenden Entzugssymptome von G-Abhängigkeit, wenn die Verwendung täglich und häufig wird. Drogeninduzierte Psychosen treten häufig bei Menschen auf, die Methamphetamin oder Cathenone verwenden und dann Schlaf verpassen. Es ist ein sehr problematischer und sehr beängstigender Zustand, der nach einer Chemsex-Sitzung eine Woche oder länger anhalten kann. Es gibt auch sexuelle Gesundheits- und HIV-Risiken. Einige der subtileren, aber sehr beunruhigenden Konsequenzen sind die langsame Verschlechterung der psychischen Gesundheit über Monate und Jahre, wenn Chemsex ein anstrengender Zeitvertreib ist. Psychologische Abhängigkeit kann zu einem Problem werden, bei dem Menschen die Fähigkeit verlieren, Sex zu genießen oder eine intime Verbindung ohne chemische Substanzen zu haben.

Szenenbild aus dem Dokumentarfilm "Chemsex" // © Pro Fun Media

Oft wird der Begriff „Chemsex“ ja ausschließlich mit schwulem Sex in Verbindung gebracht. Aber ist dieses wirklich ausschließlich ein „schwules“ Problem?

Sexualisierter Drogenkonsum ist in vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in der Geschichte und auf der ganzen Welt weit verbreitet. Es ist wichtig, dass alle Menschen, die Sex mit Drogen und Alkohol genießen, ein freundliches und wertungsfreies Auge haben, damit dies nicht zu einem Problem wird und es nicht zu einem dringenden Problem für die öffentliche Gesundheit wird, das speziell angegangen werden muss. Chemsex ist der Name für eine bestimmte Art von sexualisiertem Drogenkonsum, zugegebener Maßen ein sehr schwules kulturelles Phänomen, das mit Todesfällen, psychischen Schäden, Überdosierungen und anderen Schäden so unverhältnismäßig in Verbindung gebracht wird, dass es einer öffentlichen Gesundheitswarnung bedarf und eine sehr kulturelle spezifische Antwort. Chemsex ist ein Wort, das ein kulturspezifisches Phänomen definiert, und es ist ein Sammelruf, dass Unterstützungsdienste mit kultureller Kompetenz reagieren. Das bedeutet zu verstehen, wie Religion, Geschichte und Illegalität den Genuss von schwulem Sex erschwert haben. Ähnlich, wie die HIV/AIDS-Epidemie den Genuss von schwulem Sex erschwert hat. Wenn wir diese Dinge verstehen, unterstützen wir eine Gemeinschaft, die überproportional mit Sex und Drogen und einer komplizierten Kontaktkultur zu kämpfen hat. Um mit kultureller Kompetenz antworten zu können, brauchen wir einen Namen, der diese Kultur definiert, die die Diskussionen in der Gemeinde steuert und die unsere Gesundheitsdienste informiert. Sexualisierter Drogenkonsum ist bei vielen Menschen, Kulturen und Gemeinschaften verbreitet. Aber Chemsex ist ein besonderes Anliegen für Homosexuelle und die öffentliche Gesundheit geworden, daher ist es ein Name, der homosexuell kulturell spezifisch ist.

Die ganze Chemsex-Diskussion ist ja noch relativ jung. Gibt es hier überhaupt schon belastbare Zahlen über die vermuteten Zahlen von Usern beispielsweise in Europa?

Nein. Es gibt zwar einige großartige Wissenschaftler und Forscher, die auf diesem Gebiet hervorragende Arbeit leisten, aber die Herausforderungen sind enorm. Drogenkonsum ist stark stigmatisiert, ebenso wie schwuler Sex in verschiedenen Teilen. Auch Dinge wie Ablehnung, Ambivalenz, die die Antworten auf Umfragen behindern. Sie können dies am besten überprüfen, indem Sie sich bei Grindr in Ihrer Nähe anmelden und sehen, was passiert. Es ist das effektivste Messgerät.

David Stuart // © www.facebook.com/1david.stuart

Der Film „Chemsex“ zeigt in drastischer Weise ja nicht nur den Spaß beim Benutzen von Chems, sondern durchaus auch die Schattenseiten. In einem früheren Interview hats du ja mal gesagt: „Chemsex ist nicht ein Drogen-Problem, sondern ein Sex-Problem.“ Kannst du uns dieses einmal etwas genauer erläutern.

Ich habe mit Zehntausenden von Männern zusammengesessen, die Chemsex betreiben, die alle eine Art Anleitung für die Erforschung ihres Sexuallebens suchen, Informationen zur Schadensminderung suchen, die vielleicht helfen, eine Veränderung herbeizuführen. Sehr selten begegne ich einer Person, die Drogen als „das Problem“ beschreibt. Sie alle identifizieren das Problem als moderne Schwulen-Kultur. Ein Problem, wenn man sich im Bett enthemmt und geil fühlt, wenn man sich auf die eine oder andere Weise mit schwulem Sex befasst. Die meisten finden, dass Chemikalien ihr Problem „beheben“, wenn auch nicht ohne Konsequenzen. Die meisten beschreiben Chemikalien als einen Weg, Sex besser zu genießen, und dass es kompliziert ist, schwulen Sex ohne Drogen zu genießen. In diesem Sinne sind die Drogen eine Lösung für ihr Problem, nicht DAS Problem. Dies gilt für die meisten Leute, die Drogen nehmen, glaube ich. Wenn wir fürsorgliche Fachleute  oder freundliche und fürsorgliche Gemeinschaften sind, sollten wir aufhören, Drogen als Problem anzusehen und stattdessen versuchen, die wahre Ursache des Problems zu finden. Wenn wir uns mit der eigentlichen Ursache des Problems befassen, können wir unsere Freunde und Gemeinschaften wirksamer unterstützen.

Probleme sind etwas, was man am Ende lösen sollte – auch im Bezug auf die möglichen Gefahren hin. Wie kann man hier beispielsweise die Risiken für einen selbst einschränken bzw. minimieren? Und ist dieses überhaupt möglich?

Das Reparieren oder „Lösen“ unseres Sexuallebens ist nicht wirklich etwas, was viele von uns erreichen. Sex, Vergnügen und intime Verbindungen sind allesamt fließende und sich ändernde Dinge. Wenn wir die Risiken minimieren, wenn wir freundlich zu uns selbst und anderen sind, können wir diese Komplexität normalerweise mit einem gewissen Grad an Zufriedenheit bewältigen. Chems sind keine regulären Party-Drogen, sie sind viel komplizierter; und sie benötigen eine besonders geschulte Fähigkeit, um sie zu verwalten. Informiert zu sein über Chems und Chemsex ist heutzutage ein Muss. Greift also auf Informationen zur Schadensminderung zu, sucht nach Unterstützung, Aufklärung und Anleitung, wenn ihr euch mit Chemsex beschäftigt. Dies ist der beste Weg, um die Wahrscheinlichkeit von Risiken und Schäden zu verringern. Der Zugriff auf den Chemsex-Support bedeutet nicht, dass man(n) ein "Problem" habt, es bedeutet vielmehr, dass man jemand ist, der sich um sich selbst und andere kümmert und unter Anleitung fundierte Entscheidungen trifft. Ein wirklich guter Ausgangspunkt ist es, bei den eigenen Entscheidungen immer freundlich zu sich selbst zu sein. Denket immer daran, wie sich jede Entscheidung auf morgen, nächste Woche, einen selbst und die Menschen um einen herum auswirkt. Das ist der beste Ausgangspunkt.

Szenenbild aus dem Dokumentarfilm "Chemsex" // © Pro Fun Media

Du gehörst ja zudem zu dem Mitbegründern des „European Chemsex Forum“. Was kannst du uns über die Arbeit dieses Forums sagen? 

Ich bin sehr stolz darauf, das „European Chemsex Forum“ ins Leben gerufen zu haben. Es vereint Hunderte brillanter Aktivisten, Communities, NGOs, Aktivisten, Entscheidungsträger und Gesundheitsdienstleister für ein paar Tage zum Networking, Lernen und zur Zusammenarbeit. Es hat ein sehr Communitynahes Herz, das viel weniger akademisch ist, als typische „Konferenzen“. Es hat eine sehr starke Beziehung zu den Gemeinschaften, die auf die eine oder andere Weise Chemsex erleben. Jedes Jahr übernimmt eine andere Stadt die Leitung und organisiert/richtet die Konferenz aus. Und so trete ich eher zurück, damit die lokalen Chemsex-Trends und die lokale Community die Fakultät und Agenda leiten und sich informieren können. Es sind sehr aufregende und produktive Tage.

Mehr zu David Stuart und seiner Arbeit:

www.davidstuart.org

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