Obdachlos zur Winterzeit Rund 72.000 LGBTI*-Menschen sind wohnungs- oder obdachlos
Mitten im kalten Februar sind derzeit bis zu 72.000 LGBTI*-Menschen wohnungs- oder/und obdachlos in Deutschland, ausgehend von den Gesamtzahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungsnotfallhilfe BAGW. Eine immens große Zahl, dessen genauer Umfang bis heute nur Anhand von Umfragen und ersten Studien geschätzt werden kann, denn bis heute ist das Problem vielerorts ein Tabu. Die jüngsten Daten zeigen dabei auf, dass gerade Homosexuelle und queere Menschen offenbar besonders stark davon betroffen sind – und es überdies schwerer haben, wieder aus der Obdachlosigkeit herauszukommen.
Unterschiede zwischen Wohnnugs- und Obdachlosigkeit
Bereits 2023 schlug die queere Organisation ILGA Europe Alarm und zeigte auf, dass die Zahl der obdachlosen LGBTI*-Menschen in Europa rapide ansteigt. Demnach sind bis zu 40 Prozent der obdachlosen und wohnungslosen Menschen schwul, lesbisch, bisexuell oder queer. Experten sowie auch die Polizei unterscheiden dabei noch einmal zwischen obdachlosen und wohnungslosen Menschen. Im polizeirechtlichen Sinne sind Personen dann obdachlos, wenn sie über keinen festen Wohnsitz verfügen und im öffentlichen Raum, also beispielsweise in Parks oder U-Bahnhöfen, übernachten.
In der Wohnungsnotfallhilfe gelten Menschen dann als obdachlos, wenn sie in ihrer ortsansässigen Kommune temporär keinen eigenen Wohnraum zur Verfügung haben. Wohnungslos ist nach der Definition der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe dagegen eine Person, die nicht über einen „mietvertraglich abgesicherten oder eigenen Wohnraum“ verfügt. Wohnungslose Menschen übernachten so beispielsweise vorübergehend bei Verwandten, Bekannten, Freunden oder Einrichtungen der Wohlfahrtspflege.
Rechtliche Lage und Realität
Doch gibt es gerade für LGBTI*-Obdachlose nicht genügend Hilfsunterkünfte? Grundsätzlich sind Gemeinden und Städte nach dem Ordnungsrecht dazu verpflichtet, Menschen, die unfreiwillig obdachlos sind, eine Notunterkunft bereitzustellen. Darüber hinaus besteht das Recht auf Sozialhilfe. Parallel dazu gibt es jetzt in den kalten Wintermonaten die sogenannte Kältehilfe, die unbürokratische und anonyme Übernachtungsmöglichkeiten anbietet. Das Pendant dazu ist die Hitzehilfe in einigen Städten, die im heißen Sommer kühle Schutzunterkünfte anbietet.
Was vielleicht auf den ersten Blick nach umfangreichen Hilfsangeboten klingt, hat indes seine Tücken – so existiert bislang in Deutschland kein einheitlich anwendbares Hilfesystem, da die Wohnungsnotfallhilfe in den einzelnen Bundesländern und ihren ansässigen Kommunen sehr unterschiedlich angelegt ist. Der viel schwerwiegendere Aspekt ist dabei gerade für LGBTI*-Menschen die simple Tatsache, dass sie in Unterkünften jedweder Art sowie auch bei den Behörden selbst oftmals in extremer Weise auf Diskriminierung treffen. Die Studie der ILGA bestätigte überdies, dass viele LGBTI*-Menschen in den Notunterkünften außerdem von verbalen und gewalttätigen Angriffen sowohl von anderen Bewohnern wie auch dem Personal bedroht sein können.
Ähnliches hielt auch zuletzt Ende 2024 die Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung in ihrer jüngsten Studie im Rahmen der Initiative “Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt” (IGSV) über Obdachlosigkeit in der Regenbogenhauptstadt fest: „LSBTIQ+ Personen gelten im Kontext der Wohnungslosigkeit als besonders vulnerabel (…) Das bedeutet, dass die aktuellen Angebote der Wohnungsnotfallhilfe überwiegend auf heterosexuelle und cis-geschlechtliche Personen zugeschnitten sind und LSBTIQ+ Belange oftmals keine Beachtung finden. Für LSBTIQ+ Personen bringt dies besondere Herausforderungen und Zugangshürden mit sich. So besteht die Gefahr, gesellschaftliche Ausschlussprozesse von LSBTIQ+ Personen und Diskriminierungs- sowie Gefährdungslagen zu reproduzieren, wenn Angeboten und Fachpersonal nicht genügend Informationen und Handlungsgrundlagen zum Thema bereitgestellt werden, sie keine Sensibilisierungsmaßnahmen erfahren oder wenn die Angebote konzeptionell und räumlich nicht auf LSBTIQ+ Personen vorbereitet sind.“
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Das Problem wird immer größer
In der Umfrage unter Obdachlosen und Wohnungslosen aus der Community in Berlin gaben so auch 74 Prozent an, dass die Unterbringungssituation für sie eine Belastung darstellt, beispielsweise allein durch Räume mit Mehrbettzimmern. Rund die Hälfte von ihnen ist auch der Auffassung, dass den Betreibern der Hilfsangebote nicht bekannt ist, dass es LGBTI*-spezifische Projekte gibt oder dass sie generell über Fachwissen in diesem Bereich verfügen sollten. In Berlin hat knapp jeder zehnte LGBTI*-Obdachlose körperliche Gewalt in den Notfallunterkünften mitbekommen, sieben Prozent von ihnen sogar sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungen. In Berlin wird davon ausgegangen, dass 15 Prozent aller wohnungs- oder/und obdachlosen Personen LGBTI* sind, doch nur knapp fünf Prozent trauen sich in Unterkünfte der Wohnungsnotfallhilfe.
Das Fazit: „Sie meiden Angebote der Wohnungsnotfallhilfe, da sie sich nicht hinreichend geschützt fühlen vor Ausgrenzung, Diskriminierung oder Gewalt, und/oder empfinden Angst oder Scham, sich in einem diskriminierenden Umfeld zu zeigen.“ LGBTI*-Personen in Berlin erfahren dabei „überwiegend keine Akzeptanz“ durch andere Bewohner der Notunterkünfte, insbesondere schwule Männer und Trans-Personen haben es besonders schwer. Knapp jeder zehnte homosexuelle Obdachlose lebt und schläft so offenbar wohl lieber auf der Straße, so die Daten der LGBTI*-Umfrage II der Europäischen Grundrechteagentur (FRA). Für alle Beteiligten und Betroffenen ist dabei klar, dass das Problem wächst, immer mehr Menschen sind in Deutschland von Wohnungs- und/oder Obdachlosigkeit betroffen.
Besondere Gefährdung bei LGBTI*-Menschen
Doch warum sind gerade LGBTI*-Menschen besonders gefährdet davon, obdachlos zu werden? Ein Kernproblem laut dem Berliner Senat ist dabei schon einmal, dass „strukturelle und institutionelle Diskriminierungen“ dazu führen, dass viele Menschen aus der Community weniger Geld verdienen (Stichwort Gay Pay Gap) und deswegen auch über geringere soziale und finanzielle Sicherungssysteme verfügen. „Ablehnung und/oder Missbrauch durch die Familie, höhere Armutsraten, Mangel an institutionelle und gemeinschaftliche Unterstützung sowie Diskriminierung durch Vermieter und Arbeitgeber tragen alle zu dieser erhöhten Gefährdung bei“, betont dann die ILGA Europe.
Weitere Risikofaktoren sind außerdem psychische Erkrankungen, Suchterfahrungen oder auch eine besondere Fluchtgeschichte als LGBTI*-Person. Das besondere Problem dabei laut der ILGA: LGBTI*-Personen sind oft „unsichtbar“ in Gesprächen, wenn es um das Thema Obdachlosigkeit geht, viele zuständige Dienste haben Aspekte wie sexuelle Orientierung oder die Geschlechtsidentität bis heute nicht im Blick. Im Gegenzug würden viele LGBTI*-Menschen aus Angst vor Diskriminierung oder Gewalt immer öfter davor zurückschrecken, überhaupt auf ihre besondere Lage hinzuweisen oder diese generell anzusprechen. Dazu kommt: „Viele politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit gehen nicht auf die besondere Situation von LGBTI*-Personen ein, obwohl sie bekanntermaßen ein wichtiger Faktor ist, insbesondere für jüngere Menschen.“
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Junge homosexuelle und queere Menschen
Gerade bei jungen Homosexuellen und queeren Jugendlichen zeichnet sich eine besonders dramatische Lage ab: „Junge LGBTI*-Wohnungslose gaben an, dass sie aufgrund ihrer Situation als Obdachlose sowie der damit verbundenen Scham und dem Stigma kontinuierlich vom Coming-Out-Prozess abgehalten worden sind. Man kann sich nicht als LGBTI* outen, wenn man Angst um seine persönliche Sicherheit hat, und gleichzeitig kann man sich in der LGBTI*-Community nicht als obdachlos outen, weil man Angst vor Ausgrenzung durch Gleichaltrige hat“, so die ILGA Europe. Laut einer aktuellen Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) leben mindestens rund 6.600 minderjährige Kinder und Jugendliche auf der Straße, teils mit den Eltern, teils alleine. Gerade männliche Jugendliche versuchen sich in Großstädten wie Berlin, Köln oder Hamburg dann durch Prostitution mitunter etwas dazuzuverdienen.
Eskalation der Gewalt
Ein weiteres Problem: Die jüngste Studie des Bundesinnenministeriums zeigte auf, dass die Gewalt gegen Obdachlose immer stärker ansteigt. Die Polizei verzeichnete zuletzt mehr als 2.100 Straftaten gegen Obdachlose binnen eines Jahres – fünf Jahre zuvor waren es noch 560 Fälle weniger gewesen, ein Anstieg um 35 Prozent. Dabei vermuten die Experten und Ermittler, ähnlich wie bei der Hasskriminalität gegenüber Homosexuellen, dass die allermeisten Übergriffe gar nicht erst zur Anzeige kommen und damit auch nicht erfasst werden. In der Befragung sagten zudem 38 Prozent der obdachlosen LGBTI*-Menschen aus, dass sie bereits körperliche Gewalt erlebt haben.
Noch dramatischer scheint die Lage in Berlin: „Mehr als die Hälfte der LSBTIQ+ Personen berichtet von Erfahrungen mit Beschimpfungen, Konflikten, körperlichen Bedrohungen, Gewaltandrohungen und körperlichen Übergriffen in ihrem Leben. Knapp die Hälfte der LSBTIQ+ Personen hat zudem bereits sexualisierte Übergriffe erlebt“, so die Studie des Senats. Fast neun Prozent von ihnen schliefen auf der Straße oder öffentlichen Plätzen, gerade einmal knapp 14 Prozent gingen freiwillig in eine Notunterkunft. Rund 82 Prozent versuchten zumindest kurzfristig bei Freunden unterzukommen.
Auswege aus der Krise?
Eine schnelle Verbesserung der Lage ist dabei derzeit nicht in Sicht, in Berlin startete im November 2022 die landesweit erste Anlaufstelle für LGBTI*-Obdachlose. Beim Projekt QUEERHOME wird Betroffenen bei Wohnungsnotfällen geholfen, daneben gibt es Rat und Tat beim Wohnungserhalt, zur Unterbringung, zu weiterführenden Beratungsmaßnahmen, zur langfristigen Wohnungssuche inklusive alternativer Wohnformen und zu Wohngemeinschaften. Ein erster Hoffnungsfunken, doch landesweit viel zu wenig. Ziel von LGBTI*-Obdachlosen bleibt es dabei, aus der schwierigen Situation rauszukommen, doch auch der Kampf hinaus ist ebenso wie der Weg hinein für Homosexuelle und queere Personen besonders hart. Rund zehn Prozent der befragten LGBTI*-Menschen wurden bereits von Vermietern aufgrund ihrer gleichgeschlechtlichen Sexualität oder Geschlechtsidentität diskriminiert, beinahe jeder Fünte (18%) bekam Probleme als Mieter einer Wohnung und war unerwünscht. Die weiteren Hauptprobleme auf der Suche nach einer passenden Wohnung sind ein unzureichendes Einkommen (43 %) gefolgt von Problemen in der Familie oder der Beziehung (36%). Im Durchschnitt waren LGBTI*-Menschen neun Monate obdachlos, bevor sie eine neue dauerhafte Unterkunft finden konnten.
Der Knackpunkt dabei: Je länger die Obdachlosigkeit andauert, desto schwieriger ist es, überhaupt noch eine neue Wohnung zu finden. Die andere Problematik ist die Suche nach einen neuen Job – rund zehn Prozent der LGBTI*-Menschen in Europa wurden dabei bereits diskriminiert, weil sie homosexuell oder queer sind. Kommt dann noch eine Obdachlosigkeit dazu, verdoppelt sich dieser Wert in der LGBTI*-Community auf fast 20 Prozent. Mehr als jede dritte LGBTI*-Person (38%), die von Wohnungsproblemen betroffen war, war in den letzten fünf Jahren dann zusätzlich mit körperlichen oder sexuellen Angriffen konfrontiert. Jeder vierte (23%) LGBTI*-Obdachlose erlebte sogar im Gesundheitssystem Diskriminierung und abfällige Bemerkungen. Die Daten fußen auf die LGBTI*-Umfrage II der Europäischen Grundrechteagentur (FRA) in Zusammenarbeit mit der Organisation FEANTSA. In Berlin wurden jetzt erste Leitlinien erarbeitet, damit sich die Situation bessern kann. Dazu gehört eine zwingend notwendige Vernetzung der queeren Community-Einrichtungen mit dem System der Wohnungsnotfallhilfe sowie dem Jugend- und Sozialamt, mehr Schutzräume speziell für wohnungs- oder obdachlose LGBTI*-Personen und ein neues Selbstverständnis der Anbieter von Wohnungsnotfallhilfen inklusive der Integration von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Mitarbeiter müssen im Bereich LGBTI* besser geschult und sensibilisiert werden. Gute Ansätze – doch mit Blick auf ganz Deutschland müsste endlich deutlich mehr geschehen.