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Ist Schüchternheit bei jungen Männern einfach nur sexy oder kann es doch zu einem Problem für sie werden?
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Schüchternheit Fluch oder Segen? Sexy oder ein Problem?

ms - 24.11.2023 - 17:00 Uhr

Was haben Lady Gaga oder der verstorbene Queen-Sänger Freddy Mercury gemeinsam? Beide waren seit frühester Kindheit sehr schüchterne Menschen – das Spiel als Rampensau ist dabei nur ein Spiel. In der Gay-Community gehört Schüchternheit bei Jungs zu einer Eigenart, die sie für viele dominante Männer oder Daddys besonders interessant werden lässt. Erwähnt ein junger Schwuler, wie schüchtern oder unerfahren er ist, wenn es um Sexualität geht, desto mehr weckt er Interesse. So ist die Frage der Schüchternheit auch gerade einmal eins von vier sozialen Merkmalen, die sich beim Dating-Portal Romeo angeben lassen. Doch wie weit verbreitet ist Schüchternheit?

Jeder Vierte ist schüchtern

In Deutschland bezeichnen sich bei Menschen bis 25 Jahren rund 23 Prozent als schüchtern (Shell-Studie) – die Ausprägung ist dabei ein weites Feld und reicht von harmlosen Varianten, die Menschen beispielsweise davor zurückschrecken lassen, vor Publikum zu sprechen, bis hin zu jenen Personen, die gar nicht mehr die Wohnung verlassen wollen oder ihrem Gegenüber nicht einmal mehr in die Augen blicken können. Auch das, der unterwürfige Blick, ist in der Gay-Community ein Aspekt des sexuellen devot-dominanten Machtspiels, kann aber im echten Leben zu Problemen führen. Die Sozialphobie, also jene pathologische Form der Schüchternheit, stellt nach Depressionen und Alkoholabhängigkeit inzwischen die dritthäufigste Art der psychischen Erkrankung in der westlichen Welt dar.

Es gibt noch weitere Verknüpfungen in die schwule Szene hinein, denn auch die Triggerpunkte sind vielen Homosexuellen gut bekannt. Der Angstforscher Borwin Bandelow erklärte im FAZ-Interview: „Schüchternheit ist die Angst, von anderen Menschen kritisiert oder negativ beurteilt zu werden. In der Folge dieser Angst meiden schüchterne Personen Situationen, in denen sie anderen begegnen.“ Müssen wir dabei nicht automatisch an das eigene Coming-Out zurückdenken und an all jene Ängste, die wir in der Zeit zuvor erlebt haben?  Ein weiterer Aspekt ist die tiefsitzende, gern christlich geprägte Scham über die eigene Sexualität oder auch anderweitig konkrete Ängste, wenn es um Liebe oder Sex geht. Darunter fällt die sogenannte „Love-Shyness“, die erstmals in den 1980er Jahren beschrieben wurde. Menschen, die darunter leiden, haben Angst vor der Liebe, sodass es ihnen gerade mit Personen, die sie als attraktiv empfinden, besonders schwierig bis unmöglich fällt, zu kommunizieren. Das kann bis in den Bereich der Sexualität übergehen, sodass Intimität immer unmöglicher wird.

Der schüchterne Blick zu Boden, ein Antörner in der Gay-Community. Dahinter verbirgt sich manchmal doch viel mehr. © iStock / Viktor_Gladkov

Schüchternheit vergangener Tage

In einer Zeit vor dem Internet zeigte sich Schüchternheit besonders gerne bei schwulen Jungs, die wenig bis gar keine Erfahrung mit anderen Männern hatten. Die Möglichkeiten, sich über gleichgeschlechtliche Sexualität oder gar Liebe zwischen Männern wertneutral zu informieren, waren äußert gering – verstärkt wurde die Problematik noch jenseits der großen Städte. Erst mit dem Aufkommen erster schwuler Gruppen auch in ländlichen Regionen fanden viele den Mut, sich mit Gleichgesinnten zu treffen, Fragen zu stellen und sich auszuprobieren. Nicht allen allerdings gelang es, den Weg einer homosexuellen Emanzipation erfolgreich zu gehen und je länger das berühmte erste Mal nach hinten verschoben wurde, desto ausgeprägter wurde oftmals auch das Gefühl von Scham und Schüchternheit, im extremsten Fall so sehr, dass es die Betroffenen lähmte und zwischenmenschliche erotische, romantische oder sexuelle Kontakte unmöglich machte.  
Prägend für diese Jahre war dabei natürlich auch der Paragraf 175, der Sex zwischen Männern auch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin unter Strafe stellte. Rund 50.000 Schwule wurden aufgrund dessen bis in die 1980er Jahre hinein in Deutschland festgenommen, inhaftiert und teilweise verurteilt. Liest man heute Berichte von jungen Schwulen jener Tage, zeigt sich oftmals auch hier eine Form von schüchterner Scham. Es bedurfte schon eines stark gefestigten und mutigen Selbstbildnisses, um in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik als schwuler Mann nicht doch zumindest unterbewusst ein wenig den Gedanken zuzulassen, man sei mit seiner Homosexualität minderwertig, ein Mensch zweiter Klasse. Der menschenverachtende Paragraf, einstmals verschärft von den Nazis, wurde zwar 1994 ersatzlos gestrichen, doch in den Köpfen vieler heute älterer Homosexueller blieb diese Urangst wie ein dunkler Schatten haften.

Schüchternheit ist die Angst,
von anderen Menschen kritisiert
oder negativ beurteilt zu werden.
Müssen wir dabei nicht auto-
matisch an das eigene Coming-Out
zurückdenken?

Schüchternheit im Internet-Zeitalter

Doch auch junge Schwule, die ein Leben ohne Internet gar nicht mehr kennen, sind deswegen nicht frei von Scham und Schüchternheit. Zum einen erleben sie den geballten Hass und die Hetze von homophoben oder fundamental religiös verneinenden Kräften, die von der ganzen Welt aus mit nur einem Klick Einzug in ihr Leben halten können. Was nützt es jungen Schwulen da, wenn sie zwar vielleicht in ihrem direkten Umfeld bestenfalls positiven Zuspruch erfahren, das digitale Erleben indes ein konträr anderes ist? Zudem können zwei weitere Aspekte die Schüchternheit auch unter jungen Homosexuellen bis ins Krankhafte befeuern: Das eine ist der Fakt, dass Mobbing und Hasskriminalität gegenüber Schwulen gerade an Schulen immer weiter ansteigt und die berühmte „schwule Sau“ noch immer nicht vom Schulhof verschwunden ist. Das andere betrifft unsere Community selbst, denn im Zuge von Dating-Apps, die inzwischen für jeden Fetisch in der schwulen Welt gesonderte Angebote bereitstellen, wird nicht nur ein perfektes Aussehen erwartet, sondern auch eine Art von Allwissenheit. Überspitzt gesagt, scheinen viele von uns eine Kommunikation mit ganzen Sätzen immer mehr zu verlernen, denn unsere Nachrichten gleichen oftmals inzwischen geheimen Codes. Wer nachfragt oder seine Unwissenheit offenbart, wird allzu gerne ausgesondert: „Plus 420, PP, FF, NS, gern NSA, kein LTR aber F+, TGT ok, keine AB“ – an Romantik ist das kaum mehr zu überbieten, oder?

Doch selbst wenn es trotz anfänglicher Unwissenheit zu einem Date kommt, lässt uns die sexuelle digitale Bilder- und Informationsflut dieser Tage fälschlicherweise oftmals davon ausgehen, auch das Gegenüber müsse alles wissen und schon erlebt haben. Ein Profi im Bett, fit in allen sexuellen Spielarten, aber bitte doch auch süß, niedlich und auf der Suche nach der wahren Liebe. Und bitte nicht zu jung oder zu alt, keine Brille, kein Bauch, sportlich, aber nicht übertrieben durchtrainiert, aber bitte schon muskulös gebaut, am besten natürlich versatile und auf alle Fälle XXL in der Hose oder einen sexy Hintern, aber auch nicht zu groß bitte, süß eben, aber nicht zu klein, gerne rasiert, aber bitte nicht total, das wirkt zu kindlich, sauber und reinlich, aber bitte schon auch mit erotischem Männerduft… die Aufzählung würde sich stetig weiterführen lassen, zeigt aber doch bereits jetzt, welcher Flut an teils unerfüllbaren Erwartungen sich junge Schwule heute gegenüberstehen sehen. Ist es da verwunderlich, dass viele innerlich zurückweichen? Ältere Homosexuelle hatten es zu ihrer Jugendzeit deswegen keineswegs einfacher oder besser, doch beinahe zwangsweise war die Suche nach einem Sexualpartner zumindest eine, die weniger Regularien unterlegen war – vereinfacht gesagt, reichte es oftmals beim illegalen Cruisen auf Klappen oder in der freien Natur bereits aus, dass das Gegenüber im Besitz eines funktionierenden männlichen Geschlechtsorgans war.

Digitale Welten haben für schüchterne Schwule ein großes Suchtpotenzial und können gefährlich werden. © iStock / Andrii Lysenko

Eine weitere Entwicklung trägt dazu bei, dass Schüchternheit unter schwulen jungen Männern zunimmt ähnlich einer selbsterfüllenden Prophezeiung: Die Selbstdarstellung ist durch die digitale Welt von YouTube bis X, von OnlyFans bis Instagram zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Was auf der einen Seite durchaus begrüßenswert sein darf – das freie und selbstbestimmte, sexpositive Ausleben unserer Welt nach Jahrzehnten, ja Jahrhunderten, der Unterdrückung und Verfolgung –, kann  in seiner Weiterentwicklung allerdings auch dazu führen, dass extrovertiertes Verhalten nicht nur als völlig normal angenommen, sondern immer mehr als bindend vorausgesetzt wird. Schüchternheit oder Zurückhaltung wirkt dagegen immer mehr „weird“, seltsam, prüde, zurückgeblieben. Wer nicht binnen der ersten 90 Sekunden in einem Chatverlauf Bilder von seinem erigierten Penis versenden will, muss demnach irgendwie gestört sein.  

Warum sind wir schüchtern?

Doch woher kommt unsere Schüchternheit überhaupt? Fakt ist, dass bereits bei Säuglingen eine Entwicklungsphase zu beobachten ist, in der sie besonders schüchtern sind – wir sprechen vom „Fremdeln“. Die Wissenschaft hat hier noch keine letztgültigen Antworten, doch Forscher gehen davon aus, dass eine schüchterne Ausprägung genetisch vererbt wird und schätzen die Höhe dieses Einflusses auf bis zu 51 Prozent. Der Psychologe Carl E. Schwartz hält Schüchternheit für einen Charakterzug, den bereits Kleinkinder aufweisen. Immer mehr Forscher schließen sich der These an, dass die Ursachen tatsächlich neurochemischer Natur sind. Betroffene Kleinkinder haben eine übererregbare Amygdala und reagieren aufgrund dessen bereits auf kleine Triggerpunkte mit Angst und Geschrei – das können unbekannte neue Situationen ebenso sein wie nicht vertraute Menschen.

Unsere Dating-Nachrichten
gleichen oftmals inzwischen
geheimen Codes. Wer nachfragt,
wird ausgesondert: Plus 420, PP,
FF, NS, gern NSA, kein LTR aber
F+, TGT okay, keine AB – an
Romantik ist das kaum mehr zu
überbieten, oder?

Es ist allerdings zu einfach gedacht, Schüchternheit allein auf die Gene zurückzuführen, denn die Stärke der Ausprägung hat auch etwas mit der persönlichen Entwicklung, der Erziehung und den eigenen Erfahrungen zu tun, die wir im Laufe unseres Lebens sammeln. Eltern mit einem „überbehüteten Erziehungsstil“ können ebenso dazu beitragen wie tragische Erlebnisse von Verlust, sexuellem Missbrauch, frühkindlicher Traumata, Gewalt oder Alkoholabhängigkeit in der Familie. Gerade ein extremes Beschützen in der Kindheit verwehrt den Minderjährigen oftmals die wichtige Chance, Konflikte im Alltag selbständig zu lösen. Doch auch jenseits extremer Ausprägungen wie den Helikopter-Eltern stellt sich auch ganz grundsätzlich die Frage nach der Erziehung: Stärken Eltern das Selbstbewusstsein ihrer Sprösslinge oder geben sie ihnen zu verstehen, dass sie nie genug sind, dass ihre Leistungen in der Schule oder im sonstigen Leben immer noch besser sein könnten. Bei Regenbogenfamilien kann noch der Aspekt hinzukommen, dass Kinder hier von Gleichaltrigen zusätzlich Mobbing nur aufgrund ihrer homosexuellen Eltern erleben. Dabei reicht es oftmals leider auch bereits aus, in Kindertagen aufgrund äußerlicher Erscheinungsbilder als homosexuell gelesen zu werden, ob nun wahr oder nicht, um tiefsitzende Ängste zu schüren, die sich langfristig festsetzen können. Je früher und extremer Kinder auf Ablehnung stoßen, umso wahrscheinlicher ist es, dass sie lernen, künftig Ablehnung überall und jederzeit zu erwarten.

Ein weiterer Aspekt prägt dabei schwule Jugendliche in besonderer Weise – es ist die immer noch gesellschaftlich verankerte Rollenerwartung, wie ein „echter“ Mann zu sein hat. Noch immer gibt es Eltern, die ihren männlichen Nachkommen erzählen, ein „Indianer kenne keinen Schmerz“. Dahinter verbirgt sich ein Männerbild, das mit permanenter Stärke gleichgesetzt wird und damit so gar nicht zu einem vielleicht feinsinnigen oder feinfühligen Verhalten passen mag. Gerade junge Homosexuelle, die nicht in dieses markante Weltbild passen wollen oder können, reagieren mit Schüchternheit und innerem Rückzug darauf. Als Erwachsene erleben sie dann erneut, dass Schüchternheit auch in der Berufswelt wenig zu Chefetagen und Leitpositionen passt, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse scheinen klar. Schüchternheit ist und bleibt damit auch eine Frage des sozialen Status und es mag uns zu denken geben, dass die Gesellschaft jenen Menschen Führungspositionen nicht zutraut, wenn sie nicht wie der lauteste Gorilla in der Affenhorde schreien.

Hatten es schwule Schüchterne früher ohne Internet leichter? Oder war es nur anders schwierig? © iStock / andresr

Dazu kommt, dass schüchterne Menschen oftmals auch introvertierte Persönlichkeiten sind, sprich, sie schöpfen ihre Kraft aus sich selbst, während Extrovertierte diese aus dem Umgang mit anderen Personen ziehen. Auch hier bedingt das eine mitunter das andere, sodass die Schüchternheit die Introvertiertheit fördert und umgedreht. Allerdings muss dies nicht zwingend immer der Fall sein, wie die Psychologen Mark Snyder und Daniel Goleman festgestellt haben – sie sprechen in diesem Fall von „sozialen Chamäleons“. So gibt es beispielsweise auch nicht-schüchterne Introvertierte, die in Gesellschaft zwar ebenso ermüden, aber sich zwischendurch zurückziehen und sich dann mit neuer Energie auf kräfteraubende Situationen einlassen, ohne dass andere Menschen dies mitbekommen. Daher ist es mitunter durchaus schwierig, schüchterne Menschen überhaupt zu erkennen, vor allem dann, wenn sie tatsächlich schüchtern sind und dies nicht nur als reizvolle Behauptung beim schwulen Dating von sich selbst behaupten. Nicht grundlos existiert bis heute der Spruch „Stille Wasser sind tief“, der perfekt auf schüchterne Menschen zutrifft. Schüchternheit hat viele Facetten und nur extreme Formen fallen Außenstehenden überhaupt auf. Dazu gehören Aspekte wie ein vermehrtes Schwitzen, ein Stottern oder eine körperliche Unsicherheit wie ein ausweichender Blick zu Boden ebenso wie ein beschleunigte Atmung oder sogar Übelkeit und Schwindelanfälle. Im extremen Fall können auch Pusteln oder Rötungen im Gesicht, am Hals oder an den Ohren auftreten; dazu können Herzrasen oder auch ein generelles Panikgefühl kommen. In Gesprächen neigen schüchterne Menschen dazu, wenig zu reden oder länger nachzudenken, bevor sie antworten. Viele Betroffene fahren auch eine Strategie der Vermeidung, sie verbringen nur so viel Zeit wie nötig im sozialen Leben und ziehen sich ansonsten gerne zurück – so sind die schwulen Dating-Apps eine ideale Plattform für Schüchterne, um sich auszuprobieren, ohne tatsächlich Gefahr zu laufen, einen persönlichen Kontakt erleben zu müssen (Stichwort Fake-Profile). Generell lässt sich festhalten: Häufig fallen schüchterne Menschen dadurch auf, dass sie nicht auffallen.

Mental haben Menschen mit ausgeprägter Schüchternheit oft das Gefühl, dass andere Personen schlecht über sie denken oder reden. Sie fühlen sich, geprägt durch ihre Gene oder/und ihre Erfahrungen, nicht gut genug, ganz gleich ob im Berufsleben oder im privaten Bereich, beispielsweise bei der Partnersuche,  und nehmen deswegen gerne die Perspektive des „Selbst-Beobachteten“ ein. Schüchterne Menschen gehen ständig davon aus, die allgemeinen Standards nicht zu erfüllen und sehen im Gegenzug andere Personen in einem stark positiven Licht. Ihre verquere Annahme wird dabei durch die sozialen Medien weiter bestätigt und gestärkt, gerade dann, wenn sie auf scheinbar durchwegs schöne, stets glückliche und erfolgreiche Männer treffen – auch das Wissen, dass vieles davon Show ist und nicht der Realität entsprechen kann, schmälert das eigene Empfinden kaum, denn oftmals gewinnt ein tiefsitzendes, über Jahrzehnte ausgeprägtes Gefühl über den rationalen Verstand. An sich selbst indes setzen jene Menschen hohe Standards, die sie kaum erfüllen können – in ihrer Enttäuschung darüber liegt immer auch die erneute Bestätigung der eigenen Unzulänglichkeit. Und schlimmer noch, es folgt die, aus ihrer Sicht  nur logische Annahme, dass auch andere Menschen enttäuscht von ihnen sein müssen, selbst wenn sie es nicht sagen. Kommt dann noch, wie im Dating-Leben üblich, eine rabiate Zurückweisung beispielsweise in einem Chatverlauf dazu, triggert dies das eigene missfällige Selbstbildnis stetig von neuem. Ein Teufelskreis entsteht. Dazu kommt noch eine weitere Problematik: Menschliche Gehirne sind leider nicht sehr gut darin, zwischen tatsächlichen und erwarteten Erfahrungen zu unterscheiden. Wir alle kennen die Aussage „Vorfreude ist die schönste Freude“ und in der Tat können wir Freude mit Blick auf ein positives Ereignis in der Zukunft bewusst erleben. Ähnlich verhält es sich gefühlstechnisch, wenn wir bereits vorab von einer möglichen Ablehnung ausgehen. Das Gefühl ist bereits da, lange, bevor überhaupt eine tatsächliche Entscheidung gefallen ist.

In einer Zeit vor dem Internet zeigte
sich jene Form von Schüchternheit
besonders gerne bei schwulen Jungs,
die wenig bis gar keine Erfahrung mit
anderen Männern hatten.

Ist Schüchternheit überhaupt schlimm?

Schüchternheit ist nicht grundsätzlich ein Problem, gibt aber immer dann Grund zur Sorge, wenn sie das Leben eines Menschen stark negativ beeinflusst und den Alltag nur noch schwer bewältigen lässt. Oft ist der Übergang zwischen einer „ganz normalen“ Schüchternheit und einer Sozialphobie fließend. Einsamkeit und Depressionen können die Folge sein. Angstforscher Bandelow zur Frage, wann es gefährlich wird: „Wenn der Leidensdruck so groß ist, dass die Person die Hälfte des Tages darüber nachdenkt. Wenn sich Depressionen oder Suizidgedanken einstellen oder jemand anfängt, seine Schüchternheit mit Alkohol zu bekämpfen. Wir haben 1,6 Millionen Alkoholiker in Deutschland. Und man schätzt, dass jeder zweite Alkoholiker abhängig geworden ist, weil er eine soziale Phobie hat.“ Neben dem Alkohol wird starke Schüchternheit auch gerne online kompensiert. US-Fachleute sind sich inzwischen weitgehend einig darüber, dass zwischen Sozialangst und Suchterkrankungen eine Komorbidität besteht. Schüchterne Internetnutzer verbringen dabei immer mehr Zeit in sozialen Netzwerken und verschieben ihre Freundschaften ins digitale. „Durch die konkurrierenden Angebote zwischen echter sozialer Interaktion und geschützter sozialer Interaktion nimmt die Trainingszeit ´echter´ sozialer Interaktion notwendigerweise ab − und damit auch die Kompetenz“, so der Berliner Psychiater Jakob Hein. Gerade das Erschaffen von alternativen Identitäten beispielsweise durch Fake-Profile mit geklauten Bildern oder Avataren ist da besonders reizvoll.

Die extrovertierte Selbstdarstellung
ist durch die digitale Welt von
YouTube bis X, von OnlyFans bis
Instagram zu einer Selbstverständ-
lichkeit geworden. Passen
Schüchterne da noch rein?

Was lässt sich gegen die eigene Schüchternheit tun?

Die eigene, oftmals über Jahre aufgebaute oder genetisch geprägte Schüchternheit zu minimieren, ist ein langwieriger Prozess – er hat aber auch ungeahnte Vorteile. Bandelow ist so der festen Auffassung, dass schüchterne Menschen, die ihre Furcht überwunden haben, größeres Glück empfinden und besser in der Liebe sein können, denn gerade die manchmal jahrelange Unterdrückung von Sexualität und Beziehung lässt sie dann aufblühen. Lust und Leidenschaft werden intensiver gelebt und vermittelt. „Man kann eigentlich jedem nur raten, sich einen schüchternen Partner zu suchen, weil man mit dem vielleicht mehr Spaß hat“, so der Angstforscher.

Der erste Schritt für eine Verbesserung ist das simple Eingeständnis, dass Schüchternheit zum eigenen Charakter dazugehört und dass dies nicht so schlimm ist, wie angenommen. Selbstakzeptanz ist die Grundlage für ein persönliches Wachstum und der erste Schritt in Richtung Selbstliebe. Dazu lohnt auch ein Blick zurück: Durch wen oder was wurde das eigene negative Selbstbild geprägt? Gleicht man nun dieses mit der Realität ab, so wird man feststellen, dass dies gar nicht der Wahrheit entspricht. In einem nächsten Schritt gilt es, sich selbst in Situationen zu bringen, die man bisher versucht hat, zu vermeiden, also soziale menschliche Kontakte stärken inklusive der anschließenden Erkenntnis, dass es zumeist gar nicht so schlimm war wie befürchtet – oder bestenfalls sogar Freude bereitet hat. Und auch hier gilt es, seine eigenen Erfolge auch als solche anzunehmen und nicht kleinzureden. Beim Dating mit Männern sollten Schüchterne zudem versuchen, nicht vorab bereits alles schlechtzureden. Ganz praktisch können in solchen Situationen Atemübungen helfen, um das Gedankenkarussell zu minimieren. Ebenso positiv kann sich die richtige Körperhaltung auswirken, weg von einer gekrümmten hin zu einer aufrechten und offenen Position. Sollte es trotzdem nicht gleich klappen, muss man sich erneut vergegenwärtigen, dass die eigene Entwicklung ein Prozess ist. Für Menschen, die auf Schüchterne treffen, gilt umgedreht eine ganz wichtige Regel: Aussprechen lassen und nicht unhöflich sein. Eins zeigen die Forschungen übrigens auch: Mit dem Alter nimmt die Schüchternheit bei fast allen Menschen ab, weil die Selbstbehauptung an Wichtigkeit verliert.

 Jeder vierte schwule Mann ist in Deutschland schüchtern. © iStock / Dmitry_Tsvetkov

Vielleicht finden einige von uns schüchterne Jungs deswegen auch so reizvoll, weil sich diese Schüchternheit realistisch und zumeist noch nicht krankhaft ausgeprägt zeigt. Und nicht jede Schüchternheit muss kuriert werden, sie kann sogar als wirkungsvolle Form des Widerstands gegen die allgegenwärtige Abwesenheit von jedweden Hemmungen (Stichwort Reality-TV), exhibitionistischen Erwartungshaltungen und dem Abfeiern der schamlosen Ellenbogenmentalität verstanden werden. Vielleicht sagt die verquere Einstufung von Schüchternheit als grundsätzliches Problem auch viel über unser heutiges Weltbild aus. Schüchternheit reist selten allein und hat im Gepäck oftmals auch Feingefühl, Rücksicht und eine hohe Wertschätzung menschlicher Beziehungen dabei. Und genau danach sehnen sich die meisten Single-Schwulen bewusst wie unbewusst bis heute: einen Partner, der es wert ist, geliebt zu werden.

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