Apropos Leben Gefühltes Tagebuch: Urban Biedermeier
Unser Alien schaut sich um: „In diesen Zeiten der eingeschränkten Entfaltung haben die Menschen Wege gefunden, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. Sie greifen dabei auf Rezepte zurück, die schon ihre Vorfahren angewandt haben. Sie bauen ihre Häuser hübsch aus - wenn das Geld reicht, dann gerne auch mit einem faltbaren Schwimmbecken – und ernähren sich gesund. Das gelingt besonders gut, wenn man Obst und Gemüse selbst anbaut. Sogenannte Influencer, die Einfluss auf die Meinung der Menschen nehmen, haben jetzt auch die Schrebergärten wiederentdeckt. Noch bis vor kurzem galten diese Kleingärten mit notdürftiger Behausung als Inbegriff der kleinbürgerlichen Denk- und Lebensweise. Typisch dafür auch die Flagge, die über dem Mini-Grundstück weht. In Verbindung mit dem Begriff „Urban“ ist diese nutzwertige Freizeitgestaltung auch bei jungen Leuten wieder angesagt.“
Sind wir auf dem Weg in ein neues Biedermeier? Wohl nicht ganz freiwillig: Nolens volens sucht man nach Möglichkeiten, das Beste aus der gegenwärtigen Situation zu machen. Doch hat sich diese Tendenz zur Innerlichkeit und zum Rückzug ins Private schon vor einigen Jahrzehnten abgezeichnet: Soziologen erkannten einen Wertewandel in der Gesellschaft, der in diese Richtung wies. Cocooning bezeichnet ein Verhalten, bei dem die Familie und engste Verwandtschaft im Zentrum der Freizeitgestaltung steht. Dies mag eine Reaktion auf bestimmte Gesellschaftsentwicklungen sein: Globalisierung, Politikverdrossenheit und Nachhaltigkeit sind einige Aspekte dieses Phänomens. Daneben gab und gibt es allerdings auch das Gegenteil: Eine aufgeheizte und teilweise hitzige Diskussion um politische Richtungsfragen. Dies ist übrigens nicht ganz unähnlich der Situation zwischen 1815 und 1848. Die beherrschende Strömung in dieser Zeit in Deutschland war das Biedermeier, mit gesamtkultureller Bedeutung. Familie, Behaglichkeit, Rückzug ins Private, bürgerliche Werte, sozusagen nach dem Motto „Keep calm and carry on“. Die Einstellung war konservativ, weil man ja doch nichts ändern konnte. Freiheitliche Tendenzen wurden vom staatlichen Machtapparat und mit Zensur gebrochen. Damals, mit der Restauration der monarchischen Verhältnisse, gärte es aber auch in Teilen des aufgeklärten Bürgertums. Der Ruf nach Veränderung wurde immer lauter, bis hin zur März-Revolution im Jahre 1848.
Eine Romanfigur, die des Dorfschullehrers Gottlieb Biedermaier (mit „ai“), hat dieser Epoche den Namen gegeben. Er war damals schon eine Karikatur, wurde wohl auch mit Wohlwollen und Wiedererkennen von manchen betrachtet. Interessant ist in diesem Zusammenhang die sprachgeschichtliche Entwicklung von „bieder“: Ursprünglich stand es für brav und treu, dann für spießig und langweilig. Heute sind Bodenständigkeit und Nachhaltigkeit angesagt. Vielleicht sind die Trendsetter gegenwärtig auch ein Stückchen bieder. So erleben wir vielleicht gerade ein neues Biedermeier, zeitgeistig mit „urban“ auf angemessene Höhe gebracht. Und schließlich schmeckt das Obst und Gemüse aus dem heimischen Garten immer noch am besten.