Direkt zum Inhalt
Offline leben
Rubrik

Offline leben Ein Leben ohne Internet kann gerade für Homosexuelle zum Problem werden

ms - 09.04.2024 - 10:00 Uhr

Ich lebe online – oder doch nicht? Ist wirklich ganz Deutschland im digitalen Zeitalter angekommen, wie schon vor Jahren der bekannte Werbespruch suggerierte? Mitnichten, wie jetzt neue Daten des Bundesamtes für Statistik belegen. Gerade für Minderheiten wie die LGBTI*-Community kann dies zu einem besonderen Problem werden. 

Kein Anschluss zur eigenen Community

„Ob Terminvereinbarungen, Ticketbuchungen oder Überweisungen – viele Dienstleistungen werden fast nur noch online angeboten. Für Menschen ohne Internet wird der Alltag zunehmend schwieriger zu bewältigen“, so das Bundesamt in ihrem Fazit. Dazu kommt, dass sowohl Hilfsangebote, Beratungsstellen und Informationsmöglichkeiten für Homosexuelle und queere Menschen wie aber auch Dating-Portale für LGBTI*-Personen ohne Internet verschlossen bleiben.  

Klischeemäßig leben zwar größtenteils eher ältere Menschen in Deutschland offline, doch gibt es durchaus auch viele jüngere Personen, die noch immer keinen Zugang zur digitalen Welt haben. Für schwule Jugendliche und Männer stellen sich dabei zwei Kernprobleme heraus: Älteren droht eine schnellere Vereinsamung, denn selbst spezielle Angebote für homosexuelle Senioren werden zumeist nur noch online angeboten, vereinbart und herausgegeben. 

Zudem zeigen bereits seit Jahren Statistiken der Deutschen Aidshilfe, dass nur noch eine kleine Minderheit der schwulen Männer in Deutschland überhaupt noch reale Treffpunkte wie Bars, Clubs (14 Prozent besuchen dies noch regelmäßig) oder LGBTI*-Zentren (5 Prozent regelmäßige Besuche) aufsucht, der allergrößte Teil jeder Kontaktaufnahme findet digital statt – wer dies nicht nutzt, setzt sich gerade in älteren Jahren der Gefahr aus, keinen Anschluss mehr zur eigenen Community zu haben.  

Für jüngere und/oder nicht geoutete Homosexuelle ohne Internetzugang fallen andererseits all die Kontaktmöglichkeiten und Informationsangebote während der schwierigen Zeit des eigenen Coming-Outs weg. Das Gefühl, alleingelassen zu werden während dieses Prozesses, kann sich so verstärken bis hin zu psychischen Problemen, die gerade unter jungen LGBTI*-Menschen in den letzten Jahren massiv zugenommen haben.  

340.000 LGBTI*-Menschen ohne Internet

Die Fakten im Detail: Gut fünf Prozent der Menschen im Alter zwischen 16 und 74 Jahren waren im Jahr 2023 in Deutschland sogenannte Offliner – sie hatten noch nie das Internet genutzt. Das entspricht 3,1 Millionen Menschen in Deutschland. Umgerechnet auf die LGBTI*-Community (Ipsos Studie 2023) entspricht das rund 341.000 homosexuellen und queeren Menschen in der Bundesrepublik.

Am größten war der Anteil derer, die das Internet noch nie genutzt haben, wie bereits angedeutet in der Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen: Hier war gut ein Siebtel (15 %) offline. In der Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen hatten knapp fünf Prozent das Internet noch nie genutzt. Bei den 16- bis 44-Jährigen gab es noch zwei Prozent Offliner. 

Warum in Deutschland so viele Menschen offline leben, kann nur spekuliert werden. Nebst der freien Selbstentscheidung scheinen dabei oft auch Zwänge wie finanzielle Probleme oder auch strenge Verbote mit eine Rolle zu spielen, beispielsweise, wenn Eltern ihren Kindern jeden digitalen Zugang generell entsagen. Generell kann ein Leben als Offliner immer dann zum Problem werden, wenn es nicht wirklich freiwillig geschieht.

Dramatisch für LGBTI*-Menschen weltweit

Dramatischer wird die Situation gerade für Homosexuelle und queere Menschen in anderen EU-Staaten sowie weltweit, besonders in solchen Ländern, in denen Homosexualität bis heute kriminalisiert und verfolgt wird. Hier stellt das Internet oftmals die einzige Möglichkeit dar, überhaupt Informationen mit Gleichgesinnten auszutauschen und generell Kontakt mit anderen Schwulen und Lesben aufzunehmen. 

Im EU-Durchschnitt lag der Anteil der Offliner laut Eurostat im Jahr 2023 bei sechs Prozent. Zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gab es dabei deutliche Unterschiede: In Luxemburg, Dänemark, Niederlande und Schweden gaben weniger als ein Prozent der 16- bis 74-Jährigen an, noch nie das Internet genutzt zu haben. Die höchsten Anteile verzeichneten Kroatien (14 %), Griechenland (13 %) sowie Portugal und Bulgarien (jeweils 12 %). 

Gerade in diesen Ländern ist die Lage für Homosexuelle auf unterschiedliche Weise bis heute oftmals stark angespannt: In Kroatien kommen Gleichstellungsgesetze nur langsam voran, in Griechenland betreibt die katholische Kirche aktuell radikale Stimmungsmache gegen die geplante Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und in Bulgarien nehmen die gesellschaftliche Aggression und gewalttätige Angriffe auf die Community immer weiter zu

In Europa – einschließlich der Nicht-EU-Staaten – und Amerika ist das Internet leichter zugänglich, aber auch hier hatten im Jahr 2023 immer noch neun Prozent beziehungsweise 13 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zum Internet. Nach dramatischer zeichnet sich die Lage weltweit ab – ein Drittel der Weltbevölkerung (33 %) hatte im Jahr 2023 keinen Zugang zur digitalen Welt, das sind 2,6 Milliarden Menschen, so die Daten der Internationalen Fernmeldeunion der Vereinten Nationen (ITU). 

Auch Interessant

Viel heiße Luft

Lügenbaron Santos wird zur Drag-Queen

Er gibt keine Ruhe: Der Ex-US-Kongressabgeordnete George Santos will als Drag-Queen Geld erbetteln, bevor er im Herbst wegen Betrug vor Gericht steht.
Reform im Kosovo?

Chance für das Partnerschaftsgesetz

Klappt es dieses Mal? Der Premierminister des Kosovo will im Mai im zweiten Versuch ein Partnerschaftsgesetz für Homosexuelle verabschieden.
Revolte in Mexiko

Kampf für mehr LGBTI*-Rechte

Tausende Menschen machen gerade mobil für mehr LGBTI*-Rechte vor den Präsidentschaftswahlen in Mexiko. Im Fokus stehen Regenbogenfamilien.
Ende der Homo-Heilung

Mexiko verbietet Konversionstherapien

Der mexikanische Senat hat jetzt ein Verbot von Konversionstherapien beschlossen. Die katholische Kirche versuchte bis zuletzt das zu verhindern.