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Ende einer Ära
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Ende einer Ära Über 100 Jahre lang war die rote Mühle ein Zufluchtsort auch und gerade für junge Schwule

ms - 26.04.2024 - 14:00 Uhr

Die Windmühlenflügel des Moulin Rouge sind gestern in den frühen Morgenstunden herabgefallen – so nebenbei wanderte die Meldung durch den deutschen Pressedschungel, ohne auf viel Widerhall zu stoßen. Die Welt sieht zu, wie das Pariser Varietétheater zerfällt. Auf Bildern ist zu sehen, wie die Stahlkonstruktion auf der Straße liegt und sogar ein Teil des Schriftzuges herabgestürzt ist. Warum die Windmühlenflügel abfielen, wird derzeit noch untersucht.

Ein Symbol hoch oben auf dem Montmartre

Viele Schwule mit einem Hang zu großen Show, zum Extravaganten und zum Musical – also praktisch fast alle – verbinden mit dem Moulin Rouge zuallererst wahrscheinlich den gleichnamigen, oscarprämierten Film aus dem Jahr 2001 mit Ewan McGregor und Nicole Kidman in den Hauptrollen. Die größte Liebesgeschichte aller Zeiten inmitten der Pariser Boheme.

Das ist fürwahr ein schöner Grund, an das legendäre Varieté im lustvollen Vergnügungsviertel Pigalle am Fuße des Montmartre zu denken – doch es sollte nicht der einzige sein. Auf der höchsten Erhebung von Paris wurden die berühmten roten Windmühlen seit 1889 zu einem Symbol für Lust, sexuelle Begierde, Lebensfreude und das stets etwas Abseitige, andere, das „Abnormale“. 

Im 20. Jahrhundert fanden dann nicht nur zahlreiche hoffnungslose träumerische Künstler und Kreative ihre Zuflucht rund um das Moulin Rouge, sondern auch viele schwule junge Männer durften hier im Schutze der Anrüchigkeit eines ganzen Viertels zwischen Cancan und Chahut für ein paar Stunden im Schutz der Nacht frei leben, frei ihren sexuellen Abenteuern nachgehen. 

Zwischen Stricherjungs und Weltstars

Und während das Haus in alle den Jahren die größten französischen und oftmals auch internationalen Stars empfing, von La Goulue, Jane Avril oder Joseph Pujol und später Charles Trenet oder auch Charles Aznavour, flanierten die Stricherjungs rund um die rote Mühle herum, wie hungrige junge Wölfe auf ihr nächstes Opfer wartend. Die rote Mühle machte dem Arrondissement auch als Rotlichtviertel alle Ehre.

Die zeigefreudigen Tänzerinnen zogen ihrerseits ein buntes Publikum auf den Montmartre, darunter die edelsten Herren der Stadt, und sie alle waren auf der Suche nach einem Abenteuer für die Nacht, jenseits der gesitteten Gesellschaft in den herrschaftlichen Häusern. Wer nach den Wirren des ersten und zweiten Weltkrieges Ablenkung und ein bisschen Seelenheil suchte, fand sich oftmals vor den Toren des Moulin Rouge wieder. „Sei willkommen, wie du bist“, lautete das Credo jener Tage. Als besondere Attraktion galt in den 1960er Jahren ein großes Aquarium mitten auf der Bühne, in dem nackte Tänzerinnen auftraten und verführerisch wie Nixen herumschwammen.

Auf der Suche nach Freiheit

Hier durften sich auch Schwule ineinander verlieben, Zuflucht finden und auf der schmalen Grenzen zwischen Kunst und käuflicher Liebe entlangspazieren. Mit den Jahren wurde es stiller um das Moulin Rouge, zwischendurch gebeutelt von finanziellen Krisen, erstand es neu nach dem großen Erfolg des Kinofilms und gleich mehreren Moulin-Rouge-Musicals in New York, London, Melbourne oder auch Köln. Hundertausende Menschen jährlich strömten von neuem dem Moulin Rouge in Paris entgegen und wollten auch ein wenig dieser ganz besonderen Freiheit im 18. Arrondissement erschnuppern.

In den letzten Jahren hat das Varieté ein zweites Mal an Bedeutung verloren bis zu seinem traurigen Niedergang in diesen Tagen – eine leise Tragödie, bedenkt man, dass das Etablissement im selben Jahr eröffnet wurde wie der Eiffelturm und damit eigentlich unauslöschlich zur Geschichte der Stadt der Liebe gehört. Nun liegen die Mühlräder auf dem Bürgersteig, als seien sie nichts weiter als eine Konstruktion aus Stahl – doch mit jeder Umdrehung waren sie dabei nichts weniger als der wilde Herzschlag der Pariser hoch oben über der Stadt. Ein weit sichtbarer Sehnsuchtsort für Träumer, Hoffende und Außenseiter, für junge schwule Männer und leichte Mädchen, für alle jene, die anders waren, besonders eben.   

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